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Premiere: Marine Le Pen vor Gericht.
Für Marine Le Pen war der Gerichtstermin in Lyon ein Novum: Erstmals saß die 47-jährige Ex-Anwältin am Dienstag selbst auf der Anklagebank. Damit unterschied sie sich von ihrem Vater und Parteigründer Jean-Marie Le Pen, der wegen rassistischer Sprüche schon zwei Dutzend Verurteilungen auf dem Konto hat. Die Tochter verfolgt eher eine Strategie der "dédiabolisation" (wörtlich: Entteufelung), die sie salonfähig und damit für breite Wählerschichten akzeptabel machen soll. Und auch wirklich macht: Marine Le Pen erreicht heute bis zu 30 Prozent Stimmen, gut zehn Prozent mehr als einst der Wählersockel ihres Vaters. Und angesichts der Zuwanderungswelle erwartet der Front National bei der Regionalwahl im Dezember und der folgenden Präsidentschaftswahl weitere Erfolge.
Vor diesem Hintergrund erlangt der erste Gerichtsprozess gegen Marine Le Pen erhöhte Bedeutung. Der FN-Präsidentin wird "Anstachelung zum Rassenhass" vorgeworfen, wofür es bis zu ein Jahr Haft und 45.000 Euro Geldstrafe setzen kann.
Bei einer Parteiveranstaltung im Dezember 2010 hatte Le Pen die muslimischen Freitagsgebete in den Straßen vor den überfüllten Moscheen mit der Nazibesatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg verglichen. "Es tut mir leid, aber für die, die gerne vom Zweiten Weltkrieg sprechen, handelt es sich durchaus um eine Besatzung. Es ist eine Besetzung von ganzen Gebieten des Territoriums, von Vierteln, in denen das religiöse Gesetz gilt. Gewiss gibt es keine Panzer, keine Soldaten, aber es ist trotzdem eine Besetzung, und sie lastet schwer auf der Bevölkerung."
Adressiert an alte Parteigarde
Die Bemerkung fiel insofern auf, als sich die FN-Chefin sonst mit Nazithemen viel mehr zurückhält als ihr Vater. Wahrscheinlich wollte sie mit der Äußerung die alte Parteigarde ansprechen. Denn im Dezember 2010 lief die parteiinterne Kampagne zur Wahl des neuen FN-Vorsitzenden, und Marine Le Pen musste sich gegen den alten FN-Kämpen und Kriegsexperten Bruno Gollnisch behaupten.
Drei muslimische Vereine und die Antirassismusbewegung Mrap reichten umgehend Klage ein. Ihrer Meinung nach handelt es sich nicht um eine hingeworfene Bemerkung, sondern um das bewusste Schüren islamfeindlicher Reflexe. Nachdem das Europaparlament die Immunität der Abgeordneten aufgehoben hatte, war der Prozessweg frei. Dass er nun mitten in den französischen Regionalwahlkampf fällt, war nicht vorhersehbar gewesen.
Le Pen freute sich darüber sichtlich: Bei ihrer Ankunft im Gerichtsgebäude scherzte sie gutgelaunt, um sich – wie früher ihr Vater – als Opfer politischer Verfolgung durch die Regierung und die "von ihr abhängige Staatsanwaltschaft" zu präsentieren. Offenbar glaubt die FN-Chefin nicht, dass ihr Drang nach Respektabilität durch die TV-Bilder vom Prozess Schaden nehmen kann; im Gegenteil geht sie wohl davon aus, dass die Besatzungssymbolik angesichts der Flüchtlingswelle in Europa Wasser auf ihre Wahlkampfmühlen ist. Deshalb hielt sie in der Gerichtsverhandlung auch an dem Begriff "occupation" fest, auch wenn sie ihn nun allgemein als "Besetzung" versteht, das heißt ohne Bezug auf die eigentliche Nazibesatzung – die in Frankreich viel schwerer wiegt und mit Krieg gleichgesetzt wird.
Gebet unter freiem Himmel
Für die Klägerseite warf Samy Debah, Vorsteher des Kollektivs gegen Islamfeindlichkeit in Frankreich (CCIF), Le Pen vor, ihre Partei habe das Freitagsgebet selbst auf die Straßen vertrieben: Mehrere FN-Bürgermeister hätten den Bau neuer Moscheen verhindert und die Gläubigen damit zum Gebet unter freiem Himmel gezwungen. "Man kann sich nicht über Straßengebete aufregen und zugleich die Eröffnung von Kultusräumen verhindern", meinte Debah.
Heutzutage wird in Frankreich kaum mehr vor Moscheen gebetet, da die Behörden neue Gebetsräume zugelassen haben. Für die Rechtsfrage im Prozess spielt das aber keine Rolle. Das Urteil ist auf den 15. Dezember angesetzt. Der Staatsanwaltschaft regte zum Ende der Verhandlung einen Freispruch an. (Stefan Brändle aus Paris, 20.10.2015)