Regisseur Andreas Kriegenburg balanciert in seinen Arbeiten zwischen beißender Satire und visueller Überzeugungskraft. Sein ethisches Credo: "Theateraufführungen müssen Außerordentliches leisten."

Foto: Georg Soulek

STANDARD: Sie spielen Maxim Gorkis Drama in einer frühen Fassung. Das Stück "Wassa Schelesnowa" steht im Banne der russischen Volkserhebung von 1905 und gleicht einer schonungslosen Familienaufstellung. Interessiert Sie der Psychowahn des Stücks – oder doch etwas anderes?

Kriegenburg: Das Stück trägt, aus heutiger Perspektive gelesen, die Gefahr in sich, die in ihm enthaltene Psychologie einfach auf uns Heutige anzuwenden. Dann wird es auch "klarsichtig". Man findet darin den bösen, amoralischen Kapitalismus, der sich nur in zynischen Spielen widerspiegeln könnte.

STANDARD: Gorki schildert Machtspiele?

Kriegenburg: Gezeigt wird die Verstrickung innerhalb einer Familie: die unglaubliche Sehnsucht nach Freiheit, die ihre Mitglieder in diesem untergehenden System umtreibt. Gorki ist ein unglaublich genauer und böser Beobachter, der seine Figuren nicht schont. Er zieht sie bis auf die Unterhose aus und gibt sie nicht der Lächerlichkeit, aber der Kenntlichkeit preis.

STANDARD: Man muss das Stück nicht mit der Gegenwart kurzschließen?

Kriegenburg: Wir haben tatsächlich im Vorfeld entschieden, das Stück in seiner Zeit zu belassen. Wir blicken aus einiger Entfernung auf etwas, das dem System, in dem wir heute leben, immer noch immanent ist.

STANDARD: Das wäre?

Kriegenburg: Es gibt die wirtschaftlichen Zwänge, die in die Familie von Wassa Schelesnowa hineinwuchern. Dabei korrumpieren die Finanzzwänge die Gedanken an Freiheit und Selbstverwirklichung. Letztlich ist es ein ganz einfacher Plot: Da gibt es eine Firma, die ist in der Krise, und der Betrieb soll über den Tod ihres Besitzers hinaus erhalten werden. Aber die Mutter vertraut ihren Söhnen gar nicht ...

STANDARD: Das väterliche "Gesetz" ist außer Kraft?

Kriegenburg: Und der Onkel betreibt seine Glückssuche, indem er alles in sein Bett holt. Wobei das Symbol der Syphilis die gesamte Männergeneration durchwuchert.

STANDARD: Gorki nimmt also das Erbe des naturalistischen Dramas auf und transportiert es in den Materialismus weiter?

Kriegenburg: Er spiegelt eine tiefsitzende Verunsicherung wider. Die Zeiten sind andere geworden. Die, die früher so gute Menschen waren, die Arbeiter, die Bauern, senken den Kopf nur noch, um den bösen Blick zu verbergen. Alle wollen nur noch hinein in die Stadt, in ihr kleines Glück, in ihren kleinen Juwelierladen. Hauptsache heraus aus den Zwängen. Bis auf die Mutter, die weiß, sie hätte dann überhaupt keinen Rückhalt mehr. Sie ist die einzige Figur bei Gorki, die versucht, innerhalb ihrer Grenzen an die Zukunft zu denken.

STANDARD: Wassa, die Mutter, bildet das Gedächtnis der Familie?

Kriegenburg: Das Gedächtnis der Familie, aber auch der Firma, der Dynastie. Durch die Zwänge, die man am eigenen Leibe erfährt, investiert man in die Zukunft. Und wenn eine Generation nichts taugt, wird sie eben aussortiert und übersprungen.

STANDARD: Wassa bleibt dabei menschlich letztlich undurchschaubar?

Kriegenburg: Es gibt bei Gorki immer wieder ganz überraschende Momente. Wassa kann berechnend und kalt sein, zugleich zeigt sie gegen Schluss ihre tiefe Erschöpfung. Einmal ruft sie auch aus: "Wer zahlt für unsere Sünden?" Womit rechtfertigt sich all das Unrecht, das Menschen wie ihresgleichen begehen?

STANDARD: Heißt das, die Schelesnowa bildet einen Brückenkopf in die Zukunft, und irgendwann biegt Brechts "Die Mutter" als kommunistische Agitatorin um die Ecke?

Kriegenburg: Es gibt eine spöttische Volte: Im Stück wird ein Frauensystem aufgebaut. Die Frauen übernehmen den Hof: "Wir machen's jetzt alleine!"

STANDARD: Materialistische und marxistische Autoren setzen ihre Hoffnungen auf die Frauen?

Kriegenburg: Weil sie die Einzigen sind, die mit Kompetenz und Weitsicht agieren. Wir durchschauen auch bei den Proben nicht immer: Wer ist in den Plan involviert? Hängen die Frauen alle mit drin? Es gibt vielen Andeutungen im ersten Akt, die sich erst im dritten einlösen. Ein hochkomplexer Krimi. Zum Zuschauen nicht ganz unkompliziert.

STANDARD: Romantisch glotzen geht gar nicht?

Kriegenburg: Dazu ist dieser Stoff zu brillant. Burg-Direktorin Karin Bergmann schlug mir dieses Stück vor, und ich finde es sehr plausibel. Weil auch wir uns in einer Werteschwebe befinden, in einer Zeit des Übergangs.

STANDARD: Sie gelten als unruhiger Wanderer zwischen den Theaterstilen. Ist Ihnen dieser suchende Gestus erhalten geblieben?

Kriegenburg: Ja, wobei ich zum einen Teil sesshaft lebe, zum anderen Teil der Beruf das so mit sich bringt. Man ist immer nur auf Zwischenstationsbegegnung. Das Wesen des Regieberufs besteht darin, dass man sich immer wieder verabschieden muss. Man hinterlässt etwas: die Aufführung. Aber für dieses Hinterlassen muss man eben auch weg sein.

STANDARD: Rückt die berühmte Frage nach der DDR-Sozialisation zusehends in die Ferne?

Kriegenburg: Nicht in die Ferne. Aber sie sinkt immer mehr in die Tiefe der eigenen Persönlichkeit ab. Es gibt Prägungen, gerade im Umgang mit den Menschen auf dem Theater, die haben sich so tief eingelagert, aus denen werde ich immer schöpfen. Ich meine die Wahrnehmung der sozialen Struktur bei der Probenarbeit, auch gegenüber dem Publikum. Das versuche ich auch meinen Regiestudenten einzubläuen: Der Beruf bringt es mit sich, dass du von Menschen Lebenszeit beanspruchst. Dafür musst du viel zurückzahlen. Das bedingt einen Anspruch: Man muss um eine Aufführung ringen, die für die Schauspieler und für das Publikum Außergewöhnliches leistet. (Ronald Pohl, 21.10.2015)