STANDARD: Ah, da steht Otto, Ihr altes Holzdreirad. Sie haben viele antiquierte Spielsachen hier: Ihr Tribut an Schiller, der sagte, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spielt?

Jauch: Das Spielerische gehört sicher zum Anthropologischen. Die Besessenheit auf die Vernunft ist ja eine Krankheit, auch eine der Philosophen. Die Vernunft ist nicht zuletzt deswegen ein so großes Thema, weil sie fehlt. Das zeigt die Weltgeschichte gerade jetzt: Da gewinnt man nicht den Eindruck, dass vieles so läuft, wie es uns die Vernunft, nach der wir seit 2.000 Jahren suchen, erzählen würde. Im Grunde kommt alles, was wir tun, aus einer tiefen, relativ experimentellen Seinslage. Versuch und Spiel sind eigentlich der Normalfall des Menschen.

Die Gegenwart nennt sie paradox, die Fähigkeit der Politik, aus Problemanalysen Handlungen abzuleiten, bezweifelt sie: Ursula Pia Jauch.
Foto: Martin Mischkulnig

STANDARD: Wir spielen immer?

Jauch: Das Spielen ist eine etwas heiterere Vorstellung als die von Trial and Error. Was immer wir tun: Wir machen nur Versuche. Dieses schöne Wort von Kleist über die allmähliche Verfertigung des Denkens beim Reden, das in der Kurzfassung lautet "Ich red ja nur", zeigt das auch: Wir spielen mit Gedanken, was herauskommt, ist ziemlich ungewiss. (Eine Birmakatze kommt herbeispaziert.)

STANDARD: Ist das Rinaldo?

Jauch: Rosina, seine Schwester.

STANDARD: Sie haben einen Essay geschrieben, "Warum Katzen schnurren". Man weiß aber nicht, warum sie das tun ...

Jauch: Stimmt. Wir nehmen an, dass sie schnurren, weil sie sich wohlfühlen, aber faktisch haben wir keine Ahnung, wir können ja nicht in die Katze reinsehen. Das meiste, das wir vorgeben zu wissen, supponieren wir (nehmen wir an, Anm.) – außer beim Axiomatischen wie in der Mathematik. Wir sehen das jetzt in der Weltgeschichte: Wir hatten Pläne, aber es kam alles ganz anders. Hätte jemand gedacht, dass Religionswissenschafter wieder wichtig werden? Wir haben zum Ende des 20. Jahrhunderts die definitive Säkularisierung ausgerufen, jetzt beschäftigen wir uns mit den primären Fragen des religiösen Fundamentalismus. Die Prognosefähigkeit der Menschen ist begrenzt.

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Dass das Schnurren von Katzen (im Bild eine Birmakatze, aber nicht Jauchs Rinaldo oder Rosina) darauf hinweist, dass sie sich wohlfühlen, nehmen wir nur an. Wissen tun wir das nicht.
Foto: APA/Czimbal

STANDARD: Die Einsicht, nicht viel zu wissen, ist das Geschäft der Philosophen ...

Jauch: Das Fragezeichen ist das Erkenntnis-Mal der klugen Philosophie. Und die Befähigung, dass der Mensch es schafft, diese Fragezeichen auszuhalten. Wir wissen über sehr viel Entscheidendes in unserem Leben nicht Bescheid, eines davon ist die Situation der Endlichkeit, sind Grenzsituationen: Wir wissen nicht, wie alt wir werden, wie wir sterben werden, ob unser Haus in zwei Jahren noch stehen wird. Mit dieser Unkenntnis müssen wir leben. Genau deshalb setzt unsere Gesellschaft so sehr auf Sicherheit: um diese primäre Angst vor dem Nichtwissen ein bisschen zu kompensieren.

STANDARD: Was wären Sie, wären Sie nicht Philosophin?

Jauch: Gute Frage. Etwas aus der Abteilung: nachdenken können und etwas mit den Händen tun ... Wobei: Ich habe mir nicht vorgenommen, Philosophin zu werden, ich habe mir gar nichts vorgenommen. Als ich Philosophie studiert habe, war das Studieren an den Hochschulen noch viel breiter als heute, man hatte große Freiheiten. Die starke Änderung an den Hochschulen macht mich sehr unglücklich. Diese Phase, in der man sich orientieren konnte, in der das gezielte Herumirren der Bildung und der substanziellen Charakter- und Persönlichkeitsbildung dient, diese Phase gibt es nicht mehr. Die Studierenden stecken in einem Extremkorsett aus Zielgerichtetheit, obwohl doch die Verwertungslogik aus der Wirtschaft, wonach jeder Zeitaufwand einen Creditpoint gibt, in der Bildung eigentlich nichts zu suchen hat.

STANDARD: Den Verwertungsgedanken gibt es doch überall. Alles wird gemessen, alles bekommt eine Funktion und wird zum Geschäftsmodell.

Jauch: Ja, und statt Ökonomie haben wir überall Betriebswirtschaft. Die ersten Ökonomen waren meist Theologen und haben auch die Frage nach Ethos und Verteilungsgerechtigkeit gestellt. Genau die Fragen, die heute in der Betriebswirtschaft fehlen. Nehmen Sie die VW-Krise: Wenn die Betriebswirtschaft das Ethos nicht eliminiert hätte, wäre das nicht so ein großes Thema.

STANDARD: Haben Sie es als Philosophin, die all die Fragezeichen akzeptiert, eigentlich leichter im Leben?

Jauch: Manchmal, wenn man das Gefühl hat, man könne sich mit seiner eigenen Weisheit selbst trösten. Oft ist das aber auch nicht der Fall. Der Schweizer Literat und Nobelpreisträger Carl Spitteler schrieb den klugen Satz: "Der Philosoph kriecht mit der Philosophie hinter die Philosophie zurück, und wenn wir Glück haben, kommt er wieder hervor." Der Philosoph kann sich auch im Gespinst von Fragen verlieren. Es gibt zudem Leute, die Philosophen für verschrobene Menschen halten, weil sie Dinge hinterfragen, die für andere sonnenklar sind. Vielleicht ist der Hang zur Philosophie eine besondere Form der inneren Gedankenschwere – und die ist nicht sehr lebensdienlich.

STANDARD: Welche Eigenschaft braucht ein Philosoph gar nicht?

Jauch: Eitelkeit. Die Gefahr, dass man sich für bedeutend hält, nur weil man mal einen Kommentar zur Weltlage abgibt. Und jeder will sein eigenes System bauen und zeiht den anderen des Nichtverstehens.

STANDARD: Waren Philosophen früher denn anders?

Jauch: Der Philosoph ist zu einer irrlichternden Gestalt geworden, die fast nicht mehr existiert. Wir haben Universitätsphilosophen mit ihren Lehrstühlen, und die müssen sich im Gerede halten. Im Grund genommen waren Philosophen doch Figuren, die irgendwann einmal unangenehm aufgefallen sind, weil sie rückgefragt haben, dann hatten sie Narrenposten im positiven Sinne an den Unis. In meinen Augen ist unsere akademische Philosophie an einem toten Punkt angelangt. Dass sie zur derzeitigen Weltlage fast gar nichts sagt, hat wesentlich damit zu tun, dass der Philosophie dieser Impetus zum Unangenehmsein genommen wurde und Eitelkeit an seine Stelle getreten ist.

STANDARD: Der Philosoph muss also Eigensinn und den Mut zum Unbeliebtsein haben?

Jauch: Eigensinn unbedingt, er kann obsessiv eine Frage verfolgen und ist historisch eine Figur, die den anderen auf den Nerv geht. Weil er immer zur Unzeit die richtigen Fragen stellt oder die falschen Fragen zur richtigen Zeit.

STANDARD: Sie selbst gelten als kompromisslos.

Jauch: Ich habe eine gewisse Konsequenz.

STANDARD: Sie lehren nicht nur, sondern treten auch oft bei außeruniversitären Veranstaltungen auf, in Ihre Vorlesungen dürfen auch Studierende anderer Fächer ...

Jauch: Klar. Philosophie wird viel zu hoch gehandelt, als wäre sie etwas Schweres und Schwerblütiges – dabei beschäftigt sie jeden Menschen. Einen Tag, an dem Sie nicht philosophieren, müssen Sie mir zeigen. Sie fragen sich ja auch: Lohnt es sich, zu einem Interview in die Schweiz zu reisen ...

STANDARD: ... Um es mit Kant zu fragen: Was darf ich hoffen?

Jauch: (lacht) Genau.

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Die vier Kantschen Fragen lauten:
Was kann ich wissen?
Was soll ich tun?
Was darf ich hoffen?
Was ist der Mensch?
Foto: dpa/Diener

STANDARD: Ich fürchte, dass manche Politiker nie philosophieren.

Jauch: Da hätten sie ihren Beruf verfehlt. Aber ich stelle fest, dass die Unschärfe zwischen der Weltlage und dem Umstand, wie sie wahrgenommen und verwaltet wird, steigt und die Fähigkeit, Probleme zu analysieren und Handlungsdispositionen zu erstellen, unglaublich abnimmt.

STANDARD: Obwohl wir im Gegensatz zu früher über Echtzeitinformationen verfügen?

Jauch: Ja, aber wir erleben gerade jetzt Grenzsituationen, in denen sich alles unglaublich schnell ändert – und da kann auch die Politik nicht viel planen, muss aber reagieren. Grundsätzlich lässt sich unsere Gegenwart trefflich mit der Figur des Paradoxons beschreiben. Wir haben 320-PS-Autos und stehen damit im Stau. Wir können Mails in einer Tausendstelsekunde nach Nordostchina schicken, kommen aber nicht dazu, unsere Mails abzufragen, weil wir so viele bekommen. Wir haben eine hochgradig präzise Informationstechnologie – und wissen trotzdem nicht, was wir tun sollen. Alles paradox.

STANDARD: Und unvernünftig.

Jauch: Die Vernunft ist für vieles sehr gut geeignet, hilft aber nicht bei der Frage, wie man leben soll. Vieles im Leben ist nicht rationalisierbar.

STANDARD: Europa weiß auch nicht, wie man die Flüchtlingskrise lösen soll. Nützt da Vernunft? Angela Merkel begegnet der Krise zum Teil mit Empathie und Emotion.

Jauch: Mit Kalkül und Algorithmen können wir diese menschlichen Probleme jedenfalls nicht lösen, weil der Mensch ein Wesen mit Empathie und Gefühlen ist. Da fängt man mit Algorithmen nichts an.

STANDARD: Das Flüchtlingsthema streift die Schweiz nur; trotzdem hat jetzt die Rechte bei den Wahlen zugelegt. Sie emotionalisiert das Migrationsthema.

Jauch: Ja, dabei hat ja jeder Schweizer seinen Migrationshintergrund. Christoph Blocher von der SVP ist ein assimilierter Deutscher, ich selbst habe drei deutsche Großelternteile. Der Migrationshintergrund, ein schreckliches Wort, ist die Normalkondition jedes Menschen. Die Vorstellung, dass der Schweizer seit 1291 mit seinem Fondue auf seinen Goldbarren sitzt, stimmt ja nicht. Die Schweiz ist seit jeher stark von Immigration und Emigration geprägt. Doch was mich am stärksten beelendet, ist, dass uns die Kriegsverhinderung nicht gelungen ist, das zentrale Anliegen des Menschen. Dass es im 21. Jahrhundert diese massiven kriegsbedingten Flüchtlingsströme gibt.

STANDARD: Man redet gern von Wirtschaftsflüchtlingen ...

Jauch: Der Krieg ist das letzte Mittel in der ökonomischen Auseinandersetzung.

STANDARD: Und wir selbst haben einfach nur zu viel?

Jauch: Es gibt schon Werte, an die wir erinnern sollten. Einer davon ist das Maßhalten. Wir leben in einer absoluten Superlativgesellschaft: Alle sind Megastars ...

STANDARD: ... Ausnahmetalente.

Jauch: Ja, wie Ihr Außenminister, weil er jung ist. Heute hat vieles nur mit Größe zu tun. Doch wenn wir das Anschauliche verlassen, auch bei den Beträgen, um die es heute geht, wenn wir dermaßen ins Extraterrestrische gelangen, können wir Probleme nicht mehr lösen. Wir müssen trachten, dass es im Kleinen stimmt – auf dass sich das summiere.

STANDARD: Ihnen ist Geld aber auch wichtig.

Jauch: Geld ist ein Lebensmittel. Ich habe immer mein eigenes Geld verdient, und mittlerweile kann ich gut leben. Aber ich will kein zweites Haus, keine Yacht. Geld hat einen extremen Grenznutzen, man kann nicht zwei Koteletts essen, eines reicht. Die Genussfähigkeit des Menschen ist beschränkt – und sie hat im Wesentlichen nicht mit Gütern zu tun.

STANDARD: Sagt eine Schweizerin?

Jauch: Ja. Ich gehöre aber auch nicht zu den reichen Zürcher Protestanten, die sich totrackern für ihr Billet ins Paradies.

STANDARD: Sie sind katholisch.

Jauch: Ja, und für mich, die ich im süddeutschen Kulturkatholizismus aufgewachsen bin, mit der Basilika Birnau, wunderbaren Messgesängen und Sonntagsbraten bis zum Exzess, war der Katholizismus reinste Sinnenfreude.

In der Basilika Birnau am Bodensee wurde Jauch "high", dank Weihrauch, Wandmalereien und Kirchenmusik.
Foto: iStock/Cornelia Pithart

STANDARD: Für viele war er's nicht.

Jauch: Ja, der Katholizismus hat höchst problematische Aspekte. Aber für mich als junges Mädchen war das toll. Da ging man am Sonntagmorgen nüchtern in der Kirche zur Kommunion, und dann dieser Weihrauch, die wunderbaren Wandmalereien, die Musik: Da wurde man high, das war meine erste legale Droge. (lacht)

STANDARD: Apropos. Hier in Baden lebte der Entdecker des LSD ...

Jauch: Albert Hofmann, ich hatte ihn, als ich noch am Gymnasium unterrichtete, einmal eingeladen. Er war ein reizender Mensch, und im Alter hat ihn die Verantwortung, dieses Medikament entdeckt zu haben, sehr unglücklich gemacht.

STANDARD: Stichwort Verantwortung: Sie kritisieren unsere Ratgeberkultur. Warum fürchtet eine Gesellschaft die Eigenverantwortung?

Jauch: Diese Beratungsmentalität zeigt nur, dass die Leute ratlos sind, nicht aber, dass sie guten Rat holen. Es gibt keine Trennung zwischen Handeln und Verantwortung, bei keinem Menschen. Und dennoch erleben wir heute in den exekutiven Bereichen eine komplette Verantwortungsvergessenheit. Vielleicht sollten wir mehr Günther Anders lesen, der die Diskrepanz aufgezeigt hat zwischen dem, was wir tun können, und dem, was wir verantworten können.

STANDARD: Sollten wir nicht auch mehr Erich Fromm lesen? Oder wird die Liebe als Idee überschätzt?

Jauch: Da müsste man klären, was Liebe ist. Noch nie hat jemand mit der Liebe zu Mittag gegessen ...

STANDARD: Mit der großen Liebe schon.

Jauch: Wie lange hat's gehalten? (lacht) Ich habe Schwierigkeiten mit den ganz großen Dingen: die große Liebe, das große Geld, die große Karriere, die Großprofessur. Ich halte es mehr mit dem menschlichen Maß: Also große Liebe muss es nicht sein, aber eine empathische Beziehung zwischen den Menschen, die miteinander zu tun haben, wäre klug. In Abwandlung zu Kant möchte ich so sagen: Wir können nicht beweisen, dass es Liebe gibt, aber wir können so handeln, als ob es sie gäbe. Wir können nicht beweisen, dass es Gerechtigkeit gibt, aber wir können so handeln, als ob es sie gäbe. Dieses Als-ob ist das Maximum, das der Mensch erreichen kann. Ich weiß, draußen herrschen Neid und Gier, aber ich kann trotzdem so handeln, als ob Menschlichkeit möglich wäre. Das ist eine schöne Lösung gegen dieses leichte Verzweifeln, das einen gern befällt.

STANDARD: Es geht auch profaner. Man kann seinen Garten bestellen, wie Sie, die begeisterte Gärtnerin.

Jauch: Stimmt, ich könnte nicht sein ohne Garten. Früher hatte ich einen Schrebergarten; nun habe ich einen größeren Garten angelegt und heuer meine ersten drei Äpfel geerntet. Der Garten ist ja auch eine Metapher fürs Leben: Man muss sein Leben pflegen wie einen Garten, sagt schon Candide.

STANDARD: Letzte Frage: Worum geht's im Leben?

Jauch: Darum, das Leben zu bestehen – und zwar mit einer gewissen Sinnenfreude. Denn das Leben ist schon eine Aufgabe. (Renate Graber, 24.10.2015)