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Eine entscheidende Figur für das "Judaisieren" ist für David Nierenberg Augustinus, der die Juden mit einem Text aus ihrem eigenen heiligen Buch deutet: "Töte sie nicht, damit mein Volk es nicht vergesse; lass sie herumirren in deiner Macht."

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Gelegentlich gibt es auch heute noch Bücher, die einen mit ihrer Gelehrsamkeit förmlich erdrücken. In der Zeit, die man für eine genaue Lektüre von David Nirenbergs ideengeschichtlicher Studie "Antijudaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens" braucht, schreiben andere ganze Romane.

Doch es lohnt sich, hier bis in die ausführlichen Fußnoten hinein ins Detail zu gehen. Denn aus den zahllosen, teils sehr entlegenen Fundstücken entsteht eine große, beunruhigende Denkfigur, die der Sozialwissenschafter von der University of Chicago mit dem amerikanischen Titel seines Buches deutlicher benennt, als es die deutsche Übersetzung tut: "Antijudaism. The Western Tradition" heißt es dort. Der Verlag C. H. Beck hat sich für einen vorsichtigeren Untertitel und einen unbestimmten Artikel entschieden.

Dem bemerkenswerten Anspruch, den Nirenberg erhebt, tut dies keinen Abbruch. Für ihn erweist sich der Antijudaismus, also eine negativ geprägte Bestimmung dessen, was jüdisch ist, als konstitutiv für die gesamte abendländische, westliche Tradition, und zwar lange vor dem rassistischen Antisemitismus in der Moderne.

Diesem war vor allem daran gelegen, jüdische Menschen durch biologistische oder andere Markierungen auf eine Identität festzulegen, auf die sich dann alles Mögliche projizieren ließ. Für den Antijudaismus hingegen, wie Nirenberg ihn beschreibt, sind die tatsächlichen Juden gar nicht so sehr von Belang, es geht eher um eine sehr allgemeine Kategorie, die sich aber jederzeit feindselig konkretisieren lässt.

Ein Schlüsselmoment für das (Anti-)"Judaisieren" findet sich bei Paulus, dem ersten bedeutenden Denker des Christentums. Ihm schreibt die Kirchengeschichte das entscheidende Verdienst zu, die frühen Gemeinden für das (hellenistisch-römische) Heidentum geöffnet zu haben. Am Ursprung des Christentums stand ja ein Streit zwischen denen, die zwar Jesus für den Messias hielten, aber weiter an der Befolgung des jüdischen Gesetzes (Beschneidung, Sabbat ...) festhalten wollten, und anderen, die davon ausgingen, dass nun eine ganz neue Ordnung angebrochen war.

Paulus vertrat diese Gruppe, der es zuzuschreiben ist, dass das Christentum als universalistische Religion sich über das ganze Römische Reich verbreiten konnte. Die Bestimmung des Verhältnisses zu den jüdischen Ursprüngen blieb jedoch virulent, und Nirenberg arbeitet nun sehr gut heraus, dass die berühmte Formel aus dem Galaterbrief ("nicht mehr Juden noch Griechen") paradoxerweise darauf beruht, dass Paulus das Jüdische neu definierte – nämlich als eine Religion des "Fleisches", die Dingen verhaftet blieb, die im Christentum überwunden wurden.

Dies ist die erste in einer langen Reihe von Übersetzungen der ursprünglichen "Ablösungtheologie" in andere Bereiche. Das Christentum löste das Judentum ab, die Juden lösten sich aber nicht einfach in Luft auf. Daraus entstand ein doppeltes Problem: Als Vertreter einer überwunden geglaubten Ordnung mussten sie irgendwie in die (Heils-)Geschichte integriert werden, sie wurden damit aber auch gewissermaßen zu Stellvertretern, die in allen möglichen Logiken die Rolle des Alten zugewiesen bekamen.

"Judaisieren" heißt nach Nirenberg deswegen vor allem, eine Kategorie für Überwundenes vorrätig zu halten, die den drohenden Rückfall jederzeit anschaulich macht. Eine entscheidende Figur in diesem Zusammenhang ist Augustinus, der die Juden mit einem Text aus ihrem eigenen heiligen Buch deutet: "Töte sie nicht, damit mein Volk es nicht vergesse; lass sie herumirren in deiner Macht."

Nirenberg schreibt pointiert, dass Augustinus hier von "theoretischen Juden" spricht (wobei die Feindschaft trotzdem jederzeit praktisch werden konnte). Um ein "theoretisches Judentum" geht es aber letztendlich in dem ganzen Buch, und die bei Paulus getroffene Grundunterscheidung zwischen Fleisch und Geist kehrt in vielen Variationen ständig wieder. Die Juden haben das Gesetz, sie sind an den Buchstaben gebunden, sie pochen auf Verträge, die Christen haben die Liebe, die Freiheit und eine Gemeinschaft, die nicht der Rechtsformen bedarf, um verbindlich zu sein. Allerdings wissen auch die Christen um die "Unmöglichkeit, das Gesetz vollständig durch die Liebe zu ersetzen". Das verstärkt aber wiederum nur die negativen Impulse beim "Judaisieren" .

In einer echten Tour akademischer Force verfolgt Nirenberg sein Motiv durch die ganze abendländische Geschichte, die Entstehung des Islams nimmt er dabei ebenso in den Blick wie die verschiedenen Judenpolitiken des Mittelalters und der frühen Neuzeit, bis er schließlich bei den Philosophen der deutschen Bürgerlichkeit wieder auf seine Konstellation in besonders markanter Ausprägung trifft.

Die Begeisterung, die Immanuel Kant anfangs mit seinen Kritiken auslöste, wich bald einer Gegenreaktion, die bei Hegel dann "judaisiert" wird: Für den Vollender des Idealismus blieb Kant in einer Differenz zwischen Vernunft und Wirklichkeit verhaftet, die er unter "das jüdische Prinzip der Entgegensetzung" und damit unter die "Zerreißung des Lebens" rechnete.

Man könnte sagen: Hier ist das "theoretische Judentum" an seinem Umschlagpunkt, danach konnte es allenfalls wieder konkret werden, wie das 19. Jahrhundert dann auch hinreichend zeigte.

Bei Marx erweitert sich der Begriff des Jüdischen radikal. "Das Geld ist der eifrige Gott Israels", also sind alle Kapitalisten latent jüdisch, und die Konsequenz ist, dass bestimmte gesellschaftliche Instrumente als essenziell jüdisch gelten, vor allem Geld und Privateigentum. "Aus ihren eignen Eingeweiden erzeugt die bürgerliche Gesellschaft fortwährend den Juden." Marx begriff das als eine kritische Einsicht, aber er unterlag dabei der machtvollen "Verwechslung des Figuralen und des Realen", in der die formale Pointe von Nirenbergs Buch liegt. Denn das Judentum von Marx war zugleich intellektuelle Konstruktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, die in den Emanzipationsprozessen des 19. Jahrhunderts an einem entscheidenden Punkt angelangt war.

Eine beinahe schon zynische Facette dieses "Judaisierens" liegt in dem Umstand, dass die Juden dazu selbst nicht in der Lage sind, weil sie an das Fleisch und damit auch an den Buchstaben gefesselt sind. Sie sind also nicht zu jener "figuralen" Interpretation in der Lage, auf der das Christentum mit seinem mehrfachen Schriftsinn seine Deutungshoheit aufbaute.

Das Alte Testament blieb deswegen aus gutem Grund an das Neue gebunden, nämlich als ein Speicher, in dem man ständig das Überwundene und die Spuren der Erlösung zugleich finden konnte. Die Interpretation konnte aber immer nur in eine Richtung gehen, denn die jüdische Ablehnung der christlichen Neuerung legte sich auf die Verweigerung der "Ablösung" fest, die für die Vertreter des "Geistes" genau das bewies, was sie mit ihren Unterscheidungen konstruierten: dass die Juden immer auf der falschen Seite dieser Unterscheidungen blieben und dass das letztlich das eigentlich "Jüdische" war.

Zehn Jahre hat Nirenberg an diesem Buch gearbeitet, es wird uns noch eine Weile beschäftigen. Für alle, deren Alltag so eine Lektüre nicht oder nur auf lange Sicht zulässt, empfiehlt sich ein schmaler Band, der gleichzeitig erschienen und als Einführung wie als Epilog lesbar ist: "'Jüdisch' als politisches Konzept. Eine Kritik der Politischen Theologie", ein Vortrag, den Nirenberg in Frankfurt gehalten hat und der alles Wesentliche schon einmal enthält. Man sollte sich aber nicht um die Wucht drücken, mit der in dem großen Buch die gesamte Western Tradition auf den Prüfstand kommt, und dazu bedarf es nun einmal der Millimeterarbeit, bei der Nirenberg die Lupe auspackt, um ein Panorama in den Blick zu bekommen. (Bert Rebhandl, 25.10.2015)