STANDARD: Der Flüchtlingsstrom nach Europa reißt nicht ab. Gibt es eine Obergrenze dafür, wie viele Neuankömmlinge Sozialstaaten wie Österreich vertragen?
Bauböck: Wenn man in Relation setzt, wie viele Menschen in der Türkei, im Libanon und in Jordanien aufgenommen worden sind, muss man sagen, dass eigentlich nur wenige Flüchtlinge nach Europa gekommen sind. Aber das Paradoxe ist, dass entwickelte Sozialstaaten die Schockwirkung einer großen Zahl an neu ankommenden Menschen viel schwerer trifft als die Länder im Nahen Osten. Denn die Anforderungen an die Sozialsysteme und an den Arbeitsmarkt sind in Europa höher. Flüchtlinge haben hier Anspruch auf staatliche Hilfe und Unterkunft. Wenn sie aus der Versorgung entlassen werden, müssen sie Zugang zu den Arbeitsmärkten bekommen.
STANDARD: Es gibt ja Experten, die sagen, die soziale Marktwirtschaft europäischen Einschlags könne nur in einer möglichst homogenen Gesellschaft funktionieren.
Bauböck: Man muss zwei Dinge unterscheiden. Sind die Gesellschaften kulturell homogen, und fällt es ihnen deshalb schwer, kulturell fremde Einwanderer aufzunehmen, oder sind die Gesellschaften sozialstaatlich darauf nicht ausreichend vorbereitet? Derzeit zeigen sich vor allem Länder wenig aufnahmebereit, in denen die Vorstellung vorherrscht, dass sie kulturell homogene Nationalstaaten sind und dies auch bleiben wollen.
STANDARD: Ein Beispiel bitte.
Bauböck: Das trifft sicher auf Ungarn oder die Slowakei, aber auch auf Dänemark zu. Gleichzeitig sieht man die entgegengesetzte Entwicklung in Deutschland. Die Bundesrepublik hat lange Zeit als ein Paradefall für eine als homogen vorgestellte Kulturnation gegolten, im Gegensatz zur Staatsnation Frankreich, wo es schon seit dem 19. Jahrhundert sehr viel Einwanderung gab. Doch Deutschland hat sich seit der Jahrtausendwende offiziell dazu bekannt, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein. Dies hat sich auch im öffentlichen Bewusstsein niedergeschlagen. Das heißt nicht, dass es dort keine Konflikte gibt. Aber der gesellschaftliche Konsens in der politischen Mitte hat sich verschoben.
STANDARD: Heißt das, die Ängste vor einer Überforderung des Sozialstaates spielen keine Rolle?
Bauböck: Nein. Auf der Seite des Sozialstaates ist die Herausforderung überall in Europa groß. Andererseits gibt es das Argument, dass der Sozialstaat Einwanderung braucht wie die Butter auf dem Brot. Langfristig können europäische Sozialstaaten ihr Überalterungsproblem nur vermindern, indem sie auf Zuwanderung setzen. Das sagen die meisten Demografen. Allerdings ist Zuwanderung vor allem dann hilfreich gegen die Folgen der Überalterung, wenn sie stetig und kontrolliert erfolgt und wenn die Zielländer sich die Zuwanderer aussuchen können.
STANDARD: Das ist derzeit gerade nicht der Fall.
Bauböck: Daraus resultiert die große Diskrepanz zwischen der aktuellen Krisensituation und dem langfristigen Nutzen, den Aufnahmeländer wie Deutschland haben werden. In zehn Jahren wird man einer Kanzlerin Merkel wahrscheinlich dankbar sein. Nicht nur, weil sie humanitär richtig gehandelt hat, sondern auch, weil sie etwas getan hat, was zum Vorteil des Wirtschaftsstandorts Deutschlands war. Aber kurzfristig gibt es Probleme, weil die Sozialsysteme auf eine kleinere Zahl von Ankömmlingen ausgerichtet sind.
STANDARD: Eine wichtige Frage ist, ob es am Arbeitsmarkt zu einem Verdrängungswettbewerb kommt.
Bauböck: Arbeitsmarktökonomen gelangen generell zum Schluss, dass Einwanderung nicht in einem Verdrängungswettbewerb resultieren muss und sogar der Lohndruck im Endeffekt selten zunimmt. Was es aber gibt, ist ein Verdrängungswettbewerb im Niedriglohnsektor. Das ist aber ein Phänomen, das nicht nur durch Zuwanderung ausgelöst wird, sondern auch durch technologische Innovation und Auslagerung von Arbeitsplätzen im Zuge der Globalisierung. Es gibt ein generelles Problem für schlecht qualifizierte Gruppen der Einheimischen und zuvor Zugewanderten – auch in Österreich.
STANDARD: Was sollte kluge Politik in dieser Situation tun?
Bauböck: Die Antwort kann nur lauten, in Bildung zu investieren. Investitionen in wissenschaftliche Forschung sind für den Standort wichtig. Aber die massivsten Investitionen braucht man bei der Grundbildung, besonders in den Volksschulen und der Vorschulerziehung. Das hilft nicht nur Flüchtlingen. Man sieht an Ländern wie Großbritannien, dass dort ein Abrutschen von einheimischen weißen Arbeiterschichten auf die unterste soziale Position stattfindet. Da gibt es dann durchaus früher stark diskriminierte Einwanderer, wie etwa jene aus Bangladesch, welche die einheimische Arbeiterschicht überholen, weil sie unternehmerischer oder risikofreudiger sind.
STANDARD: Warum sind Staaten wie die Slowakei, Ungarn oder die baltischen Länder so stark dagegen, dass Flüchtlinge zu ihnen ins Land kommen?
Bauböck: Das hängt zu einem Großteil damit zusammen, wie in diesen Ländern der Übergang vom kommunistischen zum postkommunistischen System stattgefunden hat. In fast allen Staaten wurde Anfang der 90er-Jahre eine stark nationalistische Ideologie hochgekocht, die auch die gesellschaftliche Mitte okkupiert hat. Diese Staaten haben sich als Nation zum Teil neu erfinden müssen, und die Eliten haben oft auf alte nationalistische Ideologien zurückgegriffen. Wenn nun eine Krisensituation kommt, dann ist es sehr leicht, diese nationalpopulistische Suppe wieder aufzuwärmen. Das äußert sich dann als Souveränitätsgehabe gegen die Zumutungen der europäischen Solidarität. Man sieht, wie das in Ungarn gelingt, aber auch in der Slowakei. Zumal viele Menschen das Gefühl haben, dass sie vom Systemwandel nicht so profitierten, wie man das ihnen beim EU Beitritt versprochen hatte.
STANDARD: Wie sehen Sie Polen?
Bauböck: Polen ist teilweise ein Gegenbeispiel: Die europäische Integration war überwiegend erfolgreich, und dementsprechend gibt es eine starke proeuropäische Grundhaltung. Aber es gibt zugleich ein fast ebenso starkes rechtsnationales Lager, für welches Polen nach wie vor primär eine christliche Nation ist. Die Idee, dass Polen ein Einwanderungsland ist, ist noch nicht in der politischen Mitte angekommen. Wenn man sich überlegt, wie lange es in Deutschland gedauert hat, zu vermitteln, dass alle europäischen Staaten auf lange Sicht gesehen Einwanderungsnationen sind, und wie schwer das immer noch in Österreich zu vermitteln ist, dann kann man nachvollziehen, wie langwierig dieser Prozess für Länder ist, die erst vor 25 Jahren den Übergang zur Demokratie geschafft haben.
STANDARD: Warum ist die Haltung in Deutschland mehrheitlich positiv? Ist das die Gesellschaft, oder ist die Kanzlerin Angela Merkel die wahre Triebfeder?
Bauböck: Ich war überrascht von der Haltung Angela Merkels. Im Nachhinein kann man diese sicher leicht erklären: Sie ist in einer Position der innenpolitischen Stärke und hat mit keiner starken rechtspopulistischen Opposition zu kämpfen. In Europa ist Deutschland, auch aufgrund der Absetzbewegung in Großbritannien und der wirtschaftlichen wie innenpolitischen Schwächen Frankreichs, in eine Führungsrolle gedrängt worden, und Merkel ist die erste Kanzlerin, die versucht, diese Rolle auszufüllen.
Nun wissen zwar alle politischen Eliten in den europäischen Hauptstädten, dass es keine Lösung für das Flüchtlingsproblem auf nationalstaatlicher Ebene geben kann. Trotzdem gibt es die Widerstände gegen die Aufteilung der Flüchtlinge in der EU. Merkel hätte in dieser Situation aber keine europäische Lösung durchsetzen können, wenn sich Deutschland gleichzeitig abgeschottet hätte – denn das hätte dasselbe Verhalten aller anderen Staaten legitimiert. Daher hat sie etwas gewagt, was staatsmännisch bemerkenswert ist, und das unselige Dublin-Abkommen, das das Problem unlösbar macht, vorübergehend de facto außer Kraft gesetzt. Deutschland kann diese Haltung nun benutzen, um moralischen Druck auf die übrigen Staaten auszuüben und der Kommission den Rücken zu stärken. Das Zeitfenster dafür ist allerdings sehr eng und scheint sich bereits zu schließen. (András Szigetvari, 27.10.2015)