Anfang des 20. Jahrhunderts existierten in Jugoslawien zahlreiche progressive Ideen, sagt Jelena Petrovic. Der zentrale Frage sei, wie diese Ideen im Genozid enden konnten.

Foto: Heribert CORN

STANDARD: Ihre zentralen Arbeitsschwerpunkte sind Kunst, Feminismus und der postjugoslawische Raum. Wie ist das Verhältnis dieser Bereiche zueinander?

Petrović: Ich halte dieses Verhältnis für sehr wichtig, denn es legt ideologische, geopolitische und soziale Strukturen des Kunstsystems und die gegenwärtige Produktion von Kunstgeschichte offen. Es ist nötig, politische Emanzipation neu zu denken und Wissen über Kunst innerhalb des (post)jugoslawischen Raumes zu verankern. Eine feministische Methodologie hat eine entscheidende Rolle in diesem Prozess: Sie hat das Potenzial, den verknöcherten Kunstkanon zu transformieren und dominante Narrative, die zahlreiche Ungerechtigkeiten und Exklusionen festigen, zu verändern. Die Beschäftigung mit dem (post)jugoslawischen Raum hat das gleiche Potenzial.

STANDARD: Gibt es eine Differenz zwischen feministischen Bewegungen und Debatten in Österreich oder Deutschland und postjugoslawischen Ländern?

Petrović: Feminismus ist eine Möglichkeit zur Analyse, wie Dinge gestaltet werden – Feminismus ist somit nicht themenspezifisch. Feminismus hat nicht eine Identität, er ist Politik. Eine Welt, ein Kampf. Aus dieser Perspektive sehe ich keinen Unterschied zwischen Österreich oder Deutschland und postjugoslawischen Ländern. Dennoch ist der postjugoslawische Raum im europäischen Kontext speziell – nicht nur wegen des Krieges der 1990er-Jahre. Eine große Rolle spielt auch die sozialistische Geschichte davor, die sehr verschieden zu anderen Teilen Osteuropas ist. Der postjugoslawische Raum befindet sich noch immer in einer Phase der Transformation von einem in ein anderes System – und das ist eine sehr spezielle Position, eine, die radikalere Perspektiven in den Fokus bringt.

STANDARD: Sie haben über soziale und kollektive Erinnerung geforscht. Haben Sie ein Beispiel für einen Mythos über die postjugoslawische Kultur?

Petrović: Für mich ist Jugoslawien kein Ort der Nostalgie, mit irgendwelchen goldenen Zeiten. Für mich ist es eine unkomfortable Zone. Am Beginn des 20. Jahrhunderts gab es viele emanzipatorische und progressive Ideen, die auf antikolonialen, antikapitalistischen und feministischen Diskursen basierten. Die zentrale Frage ist, wie diese Ideen und Ansätze in einem Genozid enden konnten. Jugoslawien war in einem Moment real und im nächsten Moment war es verschwunden. Das bezieht sich nicht nur auf den Krieg in den 1990ern. Jugoslawien verschwand auch schon davor durch die Art, wie wir sozialistische Ideologien in unsere Realität gebrachte haben. Viele Künstler, Kulturarbeiter oder Kuratorinnen beschäftigen sich noch immer mit dem (post)jugoslawischen Bereich, denn wir haben über ihn ein völlig unterschiedliches Wissen und unterschiedliche Wahrnehmungen, wir haben kein einheitliches historisches Narrativ. Wenn ich sage "wir", meine ich nicht nur die, die aus diesem Raum kommen, sondern alle, die politisch oder ideologisch mit ihm in Beziehung stehen. Eine sehr wichtige Frage ist: Wofür steht Jugoslawien heute?

STANDARD: Postjugoslawische Kultur – was bedeutet das eigentlich?

Petrović: Ich bin mit der Bezeichnung "postjugoslawisch" wie jeglichem "post" nicht ganz glücklich. Aber für mich benennt postjugoslawisch einen temporären Ort, in dem Neues entstehen kann – zwar keine neuen Formen von Identität, aber neue Formen von Politik. Es geht nicht darum, Jugoslawien neu zu etablieren, sondern es geht um einen Umgang mit der Vergangenheit und um eine Politik der Erinnerung.

STANDARD: Viele Forschungsarbeiten von Ihnen haben Verknüpfungen zur Linguistik. Wie wichtig ist diese Disziplin für Ihre Arbeit?

Petrović: Sie ist sehr wichtig für mich und begleitete auch meine ersten Forschungsarbeiten. Die Soziolinguistik hilf etwa sehr dabei, die sprachlichen Praktiken und die Diversität der Sprachen in Jugoslawien und Postjugoslawien zu verstehen. Hier denke ich in erster Linie an die Diversifizie-rung der serbokroatischen/kroatisch-serbischen Sprache in verschiedene andere Sprachen: Serbisch, Kroatisch, bosnisch, Montenegrinisch. Auf der einen Seite haben wir die linguistische und kommunikative Ebene derselben Sprache, auf der anderen Seite haben wir territoriale und symbolische Ebenen und verschiedene Sprachen. Das ist sehr komplex und ist eng verbunden mit der Bildung von Identität und dem Prinzip einer Nation oder eines Territoriums. Die Kämpfe um Sprache waren und sind auch Teil einer nationalistischen Politik.

STANDARD: Sie haben sich auch mit weiblicher Autorinnenschaft und wie sie interpretiert wurden, beschäftigt. Wie sehen diese Interpretationen heute aus?

Petrović: Durch meine Forschung konnte ich sehen, dass Frauen nicht präsent sind – insbesondere im akademischen Kanon. Es hat sich auch gezeigt, dass es keinen einheitlichen Diskurs gibt, wie über weibliche Autorinnenschaft gesprochen wird. Es gibt einerseits Diskurse, in denen das Patriarchat noch deutlich durchscheint, auf der anderen Seite haben wir welche mit emanzipatorischen Ansätzen. Ich fand eine Menge Autorinnen, die völlig in Vergessenheit geraten sind und nie in einen Kanon aufgenommen wurden. Insbesondere solche, die in der Geschichte revolutionäre Narrative geschaffen haben.

STANDARD: Welche Autorinnen sind da besonders wichtig?

Petrović: Da gibt es sehr viele wichtige Autorinnen, Organisationen und Gruppen. Eine Bewegung möchte ich erwähnen, die eine zentrale Rolle gespielt hat: die Antifaschistische Front der Frauen. Sie ist im Zweiten Weltkrieg entstanden und war sehr engagiert, nicht nur im antifaschistischen Kampf, sondern auch in der Bildung und im Wiederaufbau des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie wirkten in verschiedensten Institutionen und haben enorm viel geleistet.

STANDARD: Gibt es aktuell eigentlich einen spezifischen feministischen Diskurs im postjugoslawischen Raum?

Petrović: Interessant ist, dass wir heute ähnliche Debatten wie in den 1930er-Jahren haben. Es zeigen sich verschiedene ideologische Stränge, wie etwa liberale Diskurse, die Gender-Mainstreaming fordern und sich mit Identitätspolitik beschäftigen. Oder aber Ansätze, die stärker in Richtung sozialer Gerechtigkeit und generell auf eine andere Form von Gesellschaft abzielen. Ab 2000 entstanden auch wichtige Bewegungen, die sich vor allem auf die Kritik von neoliberalen und patriarchalen Strukturen konzentrierten. Und schon davor, in den 1990ern, entstanden einige feministische Kunst- und Kulturfestivals, die noch immer aktiv sind, zum Beispiel das "City of Women"-Festival in Ljubljana. Als Mitglied der feministischen Kuratorinnengruppe Red Min(e)d suche ich nach feministischen Praktiken, die das Potenzial für Restrukturierungen von Diskursen in der Form haben, damit sie zur politischen Artikulation befähigen. Und mit dieser Artikulation sollen wir in jene Zusammenhänge eingreifen können, in denen wir leben, sie beleuchten und somit auch all die schwierigen Fragen, die diese temporäre Zone generieren. (Beate Hausbichler, xy, 10.2015)