Die Dame im rosafarbenen Jogginganzug jammert und raunzt, doch es hilft alles nichts. Sie muss die zwei großen Plastiksackerln mit Gemüse stehen lassen. Übergewicht. Dann kann das Propellerflugzeug der staatlichen kolumbianischen Fluglinie Satena mit zehn Passagieren an Bord endlich abheben.

28 Minuten dauert der Flug von Quibdó, der Hauptstadt der Provinz Chocó, bis nach Nuquí, einer Kleinstadt an der Pazifikküste im Westen Kolumbiens. Nuquí liegt am Golf von Tribugá, in einer der arten- und regenreichsten Gegenden der Welt. 1978 versprach der damalige Präsident Kolumbiens eine Straße von Quibdó nach Nuquí. Der Bau versandete bei Kilometer 65. Bis heute bleibt nur der Luftweg.

Viele Strände an der kolumbianischen Pazifikküste sind tatsächlich einsam, weil nur per Propellerflugzeug zu erreichen.
Foto: Thomas Wagner

Unter dem Bauch des Flugzeugs aus chinesischer Produktion zieht das endlose Grün unberührten Urwalds vorbei. An der Landebahn von Nuquí steht das Wrack eines verlassenen Schmugglerflugzeugs. Diana del Mar Mosquera, 23 Jahre alt, Afrohaarschnitt, eine filterlose Zigarette zwischen den Lippen, wartet am nahen Hafen auf die Besucher. Ihr Bruder Tonio, ein muskulöser Hüne, das Lächeln so breit wie seine Schultern, wirft den Motor des schmalen Holzbootes an. Eine Stunde brettert er an Mangrovenwäldern und Palmenstränden vorbei, dann kommen einige Häuser auf einer Landzunge in Sicht. Direkt am Strand steht eine Kapelle, die ehemals weiße Fassade von Salzwasser und Sturm schwarz gefärbt. "Willkommen in Jurubirá", ruft Diana gegen den Wind.

Spezialität Sägerochen

Nohelia Mosquera, die Mutter von Diana und Tonio, schaut mit ihrem rot gefärbten Afro und in ihrer gelb-grünen Tunika wie eine Filmdiva aus. Sie bereitet in ihrem Haus gerade eine Spezialität der Region zu: Sägerochen, den der Nachbar am Morgen aus dem Wasser gezogen hat, in einem Sud aus Öl, Kokosmilch und Koriander. Nohelia ist Lehrerin in der Schule von Jurubirá. Das Gehalt reicht nicht zum Leben, und so vermietet die Familie eine Blockhütte an die wenigen Touristen, die es bis in das Dorf schaffen.

Die Provinz Chocó hat einen schlechten Ruf. Zwei Guerillagruppen sowie eine von ehemaligen Paramilitärs geführte Bande verteidigen in der isolierten Grenzregion zu Panama ihre Quoten am Kokainexport und am illegalen Goldbergbau. Ihre Kämpfe tragen sie aber im Innern der Provinz aus, die Küstenregion um Nuquí bleibt davon unberührt.

Wie 80 Prozent der Bewohner in der Provinz stammt Nohelia von afrikanischen Sklaven ab. Jahrzehntelang lebten die Afrokolumbianer im Chocó weitgehend vergessen von der Zentralregierung im 700 Kilometer fernen Bogotá. Das führte dazu, dass sich die Bewohner wie sonst nirgendwo in Kolumbien ihre afrikanischen Traditionen bewahrten.

Enrique Murillo, der stellvertretende Chef des afrokolumbianischen Rates in der Provinz Chocó.
Foto: Thomas Wagner

Da ist zum Beispiel das Ombligado-Ritual. Die Frauen des Dorfes streuen ihren Neugeborenen Pulver zerstampfter Tiere und Pflanzen in den noch wunden Bauchnabel – "ombligo" auf Spanisch. Das soll den Kindern ganz besondere Stärken verleihen. Das Pulver von Ameisen macht fleißig, das von Skorpionen schützt vor deren Stichen. Vor einem Jahr kam eine Doku darüber in die kolumbianischen Kinos. Mit Nohelia als Erzählerin vor der Kamera.

Wenige Meter von der Bootsanlegestelle entfernt, taucht Tonio vor einem kleinen Marienaltar auf, in Minirock und BH gezwängt. Dort haben sich bereits an die 50 Nachbarn versammelt, und die meisten der jungen Männer sind als Frauen verkleidet. Immer wieder versuchen sie, mit einer der echten Dorfschönheiten wegzurennen. Ein schwieriges Unterfangen, denn mit Peitschen bewaffnete Aufpasser holen die Ausreißer ein und bringen sie zurück zur Menge. Die Zuschauer johlen. Das sei ihre Art, das Fest der Unschuldigen Kinder zu feiern, eine Art tropischer 1. April, an dem sich jeder mit jedem einen Spaß erlaubt, sagt Tonio.

Wal-Kindergarten

Am nächsten Tag bricht der 30-jährige Tonio mit einer kleinen Gruppe zum Schnorcheln auf. Er steuert mit dem Motorboot den Nationalpark Utría eine halbe Stunde nördlich von Jurubirá an. Auf dem zwei Meter tiefen Grund liegen die Reste eines Bootes, zwischen denen bunte Fische hin und her zappeln. Von Juli bis Oktober verwandelt sich die Bucht vor dem modernen Besucherzentrum aus Bambus in einen Buckelwal-Kindergarten. Die 25-Tonner schwimmen aus dem kalten Südpazifik in die wärmeren Gewässer am Äquator. Hier paaren sie sich, die bereits trächtigen Kühe bekommen ihren Nachwuchs. Ende des Jahres ziehen Kühe, Kälber und Bullen wieder Richtung Antarktis.

In Los Termales, einem Dorf südlich von Nuquí, kraulen drei schmächtige, vielleicht zehn Jahre alte Buben auf viel zu groß anmutenden Brettern in die untergehende Sonne. Sie wenden, springen auf und gleiten ein letztes Mal parallel zum Wellenkamm. Dann laufen sie in der Abenddämmerung durch die einzige Straße des Ortes zum Haus von Néstor Tello.

Männer, die sich zum Fest der Unschuldigen Kinder Frauenkleider anziehen.
Foto: Thomas Wagner

Tello gründete vor zwei Jahren den ersten Surfclub an der kolumbianischen Pazifikküste. Der 27-Jährige und seine Freunde schauten sich das Wellenreiten bei ausländischen Backpackern ab. 2013 spendete eine US-Stiftung einige Surfbretter. Heute trainiert Tello 30 Kinder im Alter von fünf bis 18 Jahren. Sie haben erste Medaillen gewonnen, bis nach Australien wurden sie schon eingeladen. Auch Besuchern leiht Tello seine Bretter gerne aus.

Die Menschen in und um Nuquí leben vom Fischen. Ab und zu hat einer Glück und fischt eines dieser Pakete aus dem Wasser. Kokain, das Drogenkuriere auf der Flucht vor den Sicherheitskräften ins Meer werfen. Ein Anruf bei der richtigen Kontaktperson, sagt ein Mann in einer der Bars von Jurubirá im Flüsterton, und schon sei der glückliche Finder um bis zu 85.000 Euro reicher. Die Klugen kaufen sich von ihrem Finderlohn Häuser. Andere versaufen ihn mit überteuertem Whisky ausländischer Marken.

Eine andere Welt

"Als ich jünger war, dachte ich, nur die Gescheiterten bleiben hier", sagt Josefina Klinger, die Tochter einer Afrokolumbianerin und eines Deutschen. Mit 17 Jahren wurde sie zum ersten Mal Mutter, danach hielt sie sich in der Provinzhauptstadt Quibdó mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Später kehrte die heute 50-Jährige nach Nuquí zurück und gründete die Stiftung Mano Cambiada. Die verwaltet seit 2008 den Nationalpark Utría, eines von sechs Naturschutzgebieten in Kolumbien, die von den Gemeinden vor Ort betreut werden. Das Motto der Stiftung: "Nuquí, eine andere Welt".

Neben der afrokolumbianischen Kultur ist es die Artenvielfalt, die die Gegend um Nuquí so einzigartig macht. Die Bewohner am Golf haben verstanden, dass sie diesen Reichtum schützen müssen. Enrique Murillo ist der stellvertretende Chef des afrokolumbianischen Rates von Nuquí. Er hat ein spezielles Lineal in seiner Hand. Es zeigt an, bis zu welcher Größe die Pianguas genannten Muscheln geschützt sind, die die Frauen in den Mangrovenwäldern einsammeln.

Zum Schluss: Schnaps

Aus dem Süden kommende Garnelenfischer hätten in den letzten Jahren die Küste abgefischt, sagt Murillo. In den Netzen der örtlichen Fischer bliebe immer weniger hängen. Vor einigen Monaten erreichte die Vertretung der Afrokolumbianer immerhin, dass 60.000 Hektar des Golfes von Tribugá zur Schutzzone erklärt wurden.

Murillo ist über die Grenzen von Nuquí hinaus bekannt für seinen feurigen Selbstgebrannten. Am Tag der Abreise will der achtfache Vater den Besuchern noch einige Flaschen seines Schnapses verkaufen. Eigentlich sind für den Souvenirkauf nur einige Minuten eingeplant. Doch als guter Gastgeber lässt er es sich nicht nehmen, auf jede verkaufte Flasche ein Glas auszugeben.

Immer angeregter wird die Unterhaltung, und nach drei Stunden stellen alle fest, dass der Flieger längst abgeflogen ist. Irgendwie ist das dann auch der passende Abschluss für das Abenteuer Chocó. (Thomas Wagner, RONDO, 01.11.2015)