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Recep Tayyip Erdoğan am Tag der Republik, dem wichtigsten türkischen Nationalfeiertag, am Donnerstag in Ankara.

Foto: AP Photo/Burhan Ozbilici

STANDARD: Die konservativ-islamische Führung in der Türkei wirft der prokurdischen Partei HDP vor, Handlangerin von Terroristen zu sein. Doch die Terroranschläge auf Zivilisten in der Türkei treffen in erster Linie die HDP und deren Anhänger. Wie passt das zusammen?

Jenkins: Die Türkei hat jahrelang eine Politik der offenen Tür verfolgt gegenüber Islamisten, die durch das Land reisten, um in Syrien zu kämpfen. Sie hat bis zum Bombenanschlag in Suruç im Juli den Propagandaorganen des Islamischen Staats erlaubt, ohne Beschränkungen Kämpfer zu rekrutieren. Jetzt aber, wo die Konsequenzen der AKP-Politik zutage treten – indirekte Folgen, aber dennoch Folgen dieser Politik –, stellen sich die Regierungspolitiker als Opfer dar und beschuldigen die HDP, den Terror zu unterstützen. Das definiert schon fast die Bedeutung des Worts "Ironie" neu.

STANDARD: Wie reagieren die Türken auf die Anschläge und die politischen Spannungen im Land? Beginnen sie an Erdoğan zu zweifeln?

Jenkins: Eines der Probleme hier ist die sehr große Spaltung zwischen Unterstützern und Gegnern Erdoğans. Es gibt natürlich auch soziale Spaltungen, aber Anhänger und Gegner des Präsidenten stecken so tief in ihren Gräben, dass die Realität keinen Einfluss auf ihre Ansichten hat. Man sieht das in den regierungsfreundlichen Medien und selbst bei der EU-Ministerin Beril Dedeoğlu, die nach dem Anschlag in Ankara erklärte, die PKK könnte hinter dem Terrorakt stehen. Diese Art von verrückten Verschwörungstheorien ist sehr weit verbreitet unter Regierungsanhängern. Ich glaube, der Anschlag in Ankara festigt noch die Polarisierung der türkischen Gesellschaft; er veranlasst die Menschen weit weniger, von einem Lager ins andere zu wechseln.

STANDARD: Wird das Land ruhiger, wenn die Parlamentswahl vorbei ist und möglicherweise eine Koalitionsregierung gebildet wird?

Jenkins: Das hängt von der Art der Koalition ab. Aber grundsätzlich ist es so: Es wird keine politische Stabilität in der Türkei geben, egal wie die Wahl ausgeht. Offen ist nur, wie viel Instabilität es geben wird. Die Hoffnung richtet sich auf eine Koalitionsregierung. Sie wird nicht gut sein, sie wird ineffektiv sein und wahrscheinlich nur von kurzer Dauer – ein Jahr, höchstens 18 Monate. Aber sie würde den Einfluss von Präsident Erdoğan verringern. Jetzt beherrscht er noch die AKP-Regierung, in einer Koalition aber wird er nur einen Partner steuern können.

STANDARD: Trotz dieser Instabilität hält ein großer Teil der Türken weiter zu Erdogan?

Jenkins: In der Türkei gibt es leider keine Tradition, dass Menschen gegen jemanden aufstehen, der stark ist. Das passiert sehr selten. Wenn sie sehen, dass jemand stark ist, weichen sie in der Regel zurück; sehen sie, dass er schwach wird, kommen sie und fordern ihn heraus. Wir haben das nach der Wahl im Juni gesehen. Die Leute begriffen, dass Erdogan geschwächt wurde, und plötzlich kritisierten ihn mehr; Gerichtsurteile ergingen, die nicht in seinem Sinn waren. Die Türkei hat auch andere Probleme, aber Erdoğan ist der Hauptgrund für die derzeitige Instabilität im Land. Kommt es zu einer Koalition, wird Erdoğan geschwächt. Auch Personen innerhalb der AKP, wo viele über ihn unglücklich sind, werden dann aufstehen.

STANDARD: Sie haben von Beginn an Zweifel an den Hochverratsverfahren gegen die türkische Armee geäußert. Mittlerweile ist von Ergenekon und den anderen angeblichen Putschplänen nicht viel übriggeblieben. Der Großteil der Urteile ist aufgehoben worden. Wozu war das alles gut?

Jenkins: Ergenekon begann nach 2007, als die Armee schon keine Macht mehr hatte. Es war ein Versuch der Gülen-Bewegung (Netzwerk des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen, Anm.), sogenannte Ermittlungen über den "tiefen Staat" und andere illegale Einrichtungen für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Für die Gülen-Bewegung war es eine Tarnung, um ihre Rivalen und Gegner zu verfolgen. Natürlich existierte der "tiefe Staat" in der Türkei, fürchterliche Gewalttaten wurden begangen. Doch es gab nie einen wirklichen Versuch, das aufzuklären.

Wir haben das bei Ergenekon gesehen: Nach und nach erweiterten sie die Ermittlungen und schlossen jeden ein, den sie nicht mochten. Am Ende gab es die absurde Situation, dass bekannte Rechtsgerichtete beschuldigt wurden, Teil derselben Geheimorganisation zu sein wie Linksliberale oder Linksextreme. (Markus Bernath, 30.10.2015)