"Ich habe sieben Kinder. Und Rafael", sagt Americo Mangasao. Sein Sohn Rafael ist zehn Jahre alt, in Österreich würde man den schmächtigen Buben im Rollstuhl auf höchstens sechs Jahre schätzen. Im Alter von drei Monaten begannen seine epileptischen Anfälle, er entwickelte sich nicht mehr weiter, weinte viel, lernte weder sitzen oder stehen, noch etwas zu halten. Behinderte Kinder werden in Mosambik oft versteckt – zum Teil aus Scham, meistens aber, weil die Eltern weder das Wissen noch die Zeit haben, sich mit diesen Kindern zu beschäftigen.
Denn Eltern – und noch in höherem Maße alleinerziehende Mütter – müssen sich um den Unterhalt der großen Familie kümmern, die in Mosambik durchschnittlich sieben Kinder zählt. "Ich bin Schneider und nähe Decken oder Matten aus Säcken, meine Frau sorgt für Kinder, Essen und Haushalt", berichtet Rafaels Vater. Der Bub blieb oft allein im Haus, er hatte keine Kontaktmöglichkeit zu Gleichaltrigen.
Rafaels Familie lebt in Matacuane, einem Armenviertel der Hafenstadt Beira. Auf der Hauptstraße weht noch leichter Wind, in den Seitengassen steht die Luft. Bunte Wäsche hängt von den Leinen, Kinder in zerrissenen Hosen sitzen im Schatten eines uralten Baumriesen. Vor den schiefen Häusern mit dürftigem Wellblechdach ist aufgekehrt, aber zehn Meter daneben picken Hühner im Plastikmüll. Eine Gruppe von Schulkindern geht den sandigen Weg entlang. Im nächsten Monat, wenn die Regenzeit alles überschwemmt, werden sie auf alten Autoreifen durch den Morast balancieren müssen.
Behinderung erzeugt Armut erzeugt Behinderung
Wer als Kind in Mosambik auf die Welt kommt, hat einen steinigen Weg vor sich. Das Land in Südostafrika zählt zu den ärmsten der Welt, auf dem Human Development Index nimmt es Platz 178 von 187 ein. Die Lebenserwartung liegt bei 50 Jahren, fast 55 Prozent der Bevölkerung leben laut Weltbank unter der nationalen Armutsgrenze. Viele Kinder werden zu Waisen oder Halbwaisen, weil ihre Eltern früh an Malaria, Durchfallserkrankungen oder HIV/Aids sterben.
Es ist erwiesen, dass Behinderung und Armut in engem Zusammenhang stehen: Behinderte Menschen haben seltener Zugang zu Bildung. Dadurch können sie auch keinen Beruf ergreifen, von dem sie sich selbst erhalten könnten. Sie haben Schwierigkeiten, eine Familie zu gründen, weil sie vom sozialen Leben ausgeschlossen sind. Behinderung erzeugt Armut. Umgekehrt führen mitunter auch ärmliche Lebensbedingungen mit schlechter Ernährung und fehlender medizinischer Versorgung zu Behinderungen.
So erblinden Kinder durch den Mangel an Vitamin A, Komplikationen bei Hausgeburten führen zu Sauerstoffmangel – und als Folge zu Entwicklungsstörungen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind in Mosambik 15 Prozent der Bevölkerung, also rund 3,7 Millionen Menschen behindert, wovon Kinder als schwächste Glieder der Gesellschaft verstärkt betroffen sind.
Zum Wachsen braucht ein Kind Gemeinschaft
Je früher man behinderte Kinder in Betreuung aufnimmt, desto eher können sich ihre Lebensumstände bessern. Das ist das Bestreben von Orebacom, einer lokalen Hilfsorganisation, die seit 2008 in Zusammenarbeit mit Licht für die Welt in den Armenvierteln der Stadt Beira aktiv ist. Gemeinsam wurde das Konzept der gemeindenahen Rehabilitation umgesetzt.
Dabei besuchen Physiotherapeuten Kinder mit Behinderungen: Zuerst bemüht man sich, das Kind kennenzulernen und sein Vertrauen zu gewinnen, erzählt Maria Fernanda de Alexandre, die Leiterin von Orebacom. "Dann beginnen wir mit therapeutischen Übungen. Geschwister, Eltern und Nachbarschaft werden einbezogen, damit diese die Übungen weiterführen können. So lernen alle, wie sie das Kind am besten unterstützen, und es wächst in die Gemeinschaft hinein." Ungefähr 270 Klienten werden mit Hausbesuchen zwei bis drei Mal pro Woche gefördert.
Hinten im Garten, in der trockenen staubigen Erde, zieht sie Gemüse. Sorgfältig sind Beete mit Tomaten, Salat und Kohl angelegt. Die kleinen Setzlinge verteilt sie dann an ihre Klienten, damit deren Ernährung vitaminreicher wird. Sie versprüht so viel Begeisterung, woher kommt das? "Wir sind eine inklusive Familie", sagt Fernanda und das klingt bei ihr wie das selbstverständlichste auf der Welt. "Meine 22-jährige Tochter leidet unter Zerebralparese, mein Mann hat eine motorische Behinderung, und das Kindermädchen ist gehörlos."
Zerebralparese ist eine Bewegungsstörung, die durch Sauerstoffmangel bei der Geburt oder durch frühkindliche Hirnentzündungen oder Traumata hervorgerufen wird und die Entwicklung hemmt. Die meisten Kinder kommen in Mosambik zu Hause auf die Welt, die Säuglingssterblichkeit liegt laut WHO bei 61 von 1.000 Geburten. Jedes zehnte Kind stirbt, bevor es das fünfte Lebensjahr erreicht. Komplikationen bei der Geburt oder Infektionen in den ersten Lebensmonaten führen oftmals zu Behinderungen.
Vielleicht einmal in die Schule gehen
Ganz wichtig sind Heilbehelfe, die Orebacom ebenfalls organisiert. Rafael hat jetzt einen einfachen Rollstuhl und seine Geschwister können ihn vors Haus schieben. So kommt er mit den Nachbarkindern in Kontakt. Seine Rehabilitationshelferin Floriana gibt ihm eine Rassel und der Bub beginnt damit rhythmisch zu scheppern. "Das hat er noch nie gemacht!", ruft Floriana und macht fast einen Luftsprung. Auch Vater Americo, der bis jetzt etwas unbeholfen danebenstand, strahlt plötzlich vor Freude.
Die Analphabetenrate bei Erwachsenen über 15 Jahre liegt in Mosambik bei 44 Prozent. "Als behindertes Kind sinkt die Chance, in die Schule gehen zu können, noch deutlicher. Und bei Klassenzahlen von 60 bis 70 Kindern kommt die individuelle Betreuung oft zu kurz", weiß Cesaltina Artur. Sie leitet die Abteilung für behinderte Menschen in der Provinzdirektion von Sofala für Frauen und soziale Angelegenheiten. Bis vor wenigen Jahren gab es Sonderschulen, das war nicht im Sinne einer Inklusion. Heute werden die Kinder in Klassen integriert.
Programme zur Förderung von Behinderten scheiterten in den 1980er-Jahren, weil die Familien nicht miteinbezogen wurden: "Das Pilotprojekt von Licht für die Welt und Orebacom hat uns gezeigt, dass wir zu den Menschen kommen müssen, um Behinderte aus der Anonymität zu holen und sie mit Familie und Nachbarn zusammenzuführen. Jetzt gibt es erste Pläne im Sozialministerium in Maputo, ein landesweites Programm für gemeindenahe Rehabilitation aufzusetzen."
Applaus, Applaus
In den weiten Savannen Mosambiks sieht man Kinder selten Ball spielen. Das einzige Spielzeug ist ein Reifen, den sie mit einem Stock treiben. Dass ein einfacher Ball Wunder bewirken kann, speziell wenn es um Integration geht, beweist Domingos Langa. Der ehemalige mosambikanische Läufer über 400 und 800 Meter kam eher durch Zufall mit Behindertensport in Berührung. Im Sportcenter, wo er jetzt 200 behinderte Kinder jede Woche trainiert, nennt ihn jeder nur Tio, also Onkel. In seinen integrativen Sportgruppen bezieht er die gesunden Kinder der Nachbarschaft mit ein. Das Sportcenter ist ein Treffpunkt für alle.
Die jungen Sportlerinnen und Sportler sind in aufgeregter festlicher Stimmung und begrüßen mit einer Parade zu schwungvoller Musik unsere Journalistengruppe. Nach einer Ansprache der Vorsitzenden aus dem Behindertenverband starten die Bewerbe. Zuerst flitzen die Rollstuhl-Basketballer über das alte Holzparkett. Ein Mädchen beschleunigt auf kurzer Strecke, jagt einem Gegenspieler den Ball ab und wirft ihn präzise zu ihrem Mitspieler, der einen Punkt erzielt. Jubelnd wendet sie ihren Rollstuhl. Ihre Oberschenkel enden in Stümpfen, auch die linke Hand ist ein Stumpf, einzig ihre rechte Hand ist heil.
Auch die gehörlosen Fußballer zeigen ihre Fähigkeiten: "Die Burschen von 12 bis 20 Jahren sind als Team bei jedem Bewerb gefürchtet, so gut spielen sie", erzählt Tio stolz über seine Spieler. Beim Match ist es ungewöhnlich still, der Schiedsrichter wachelt mit der Fahne, statt zu pfeifen. Die Spieler deuten mit den Armen die Spielzüge an. Tor. Die Burschen heben die Hände und drehen sie, der erfolgreiche Torschütze macht vor Freude einen Salto rückwärts.
Ein junger Rollstuhlfahrer rollt herbei: "Habt ihr in Österreich auch Behindertenteams?" Oh ja. "Na, dann ladet uns doch ein, ich möchte einmal nach Österreich reisen. Ich heiße Remember, so wie erinnern, das ist leicht zu merken." Nach den Bewerben können die jungen Sportler gar nicht genug vom Applaus bekommen, immer wieder verbeugen sie sich und lassen sich fotografieren. Es beflügelt sie sichtlich, dass sie heute gleichsam der Welt zeigen dürfen, was sie können. Einmal im Rampenlicht stehen, das tut gut. (Michaela Ortis, 2.11.2015)