Als Dolmetscher fungierende Helfer, wie dieser des Arabischen mächtige Freiwillige am Wiener Hauptbahnhof, haben oft eigene Fluchterfahrungen zu verarbeiten.

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STANDARD: Johannes Schröer, Sie sind klinischer Psychologe und haben schon im September psychische Hilfe am Wiener Hauptbahnhof ins Leben gerufen, um nicht nur Flüchtlingen, sondern auch Freiwilligen, die inzwischen zum Teil seit zwei Monaten dort arbeiten, zu helfen. Ulrike Schröer, Sie sind klinische Sozialarbeiterin und dort unter anderem in psychischen Krisenfällen engagiert. Warum brauchen die Helfer psychische Hilfe?

Johannes Schröer: In Bezug auf die Flüchtlinge war sehr überraschend, wie gefasst die Menschen sind. Sie befinden sich noch auf der Flucht, im Überlebensmodus. Erst später, wenn sie tatsächlich ankommen, werden sie die Folgen eventueller Traumatisierungen spüren. Von Anfang an haben wir gesagt, dass wir auch für die Helfer da sein wollen. Es gibt welche darunter, denen es schwerfällt, abzuschalten und auch mal loszulassen. Wenn man seine Bedürfnisse eine Zeitlang hintanstellt und das gute Gefühl des Gebrauchtwerdens hat, kann man leicht den Punkt übersehen, an dem es zu viel wird. Dann kann es zu Belastungssymptomen wie Schlafstörungen, ständiger Anspannung und Gereiztheit, Gedankenkreisen und Flashbacks, depressiven Symptomatiken und Ähnlichem kommen.

Ulrike Schröer: Angesichts der dramatischen Geschichten, mit denen Helferinnen und Helfer konfrontiert sind, sind die Anteilnahme und Betroffenheit immer wieder sehr groß, was eine Abgrenzung erschwert. Hinzu kommt, dass sehr viele der Freiwilligen selbst Fluchterfahrungen gemacht haben und es zu Retraumatisierungen kommen kann. Wir haben auch einige Helfer, die selbst gerade im Asylverfahren stecken. Für sie kann es sehr gut sein, eine Aufgabe zu haben, zugleich sind sie dabei mit ihren eigenen Fluchterfahrungen konfrontiert.

STANDARD: Was tun Sie, wenn jemand offensichtlich Hilfe benötigt?

Johannes Schröer: Wir bieten ein offenes Ohr und leisten in akuten Fällen Krisenintervention. Wir haben Informationsmaterialien zur psychischen Gesundheit zusammengestellt. Außerdem informieren wir über verschiedene Angebote für Supervision, die teils kostenlos oder auf Krankenkassenkosten in Anspruch genommen werden können.

Ulrike Schröer: Helferinnen und Helfer der psychologischen Hilfe gehen durch den Bahnhof und versuchen beide Seiten, Flüchtlinge und Helfer, im Blick zu haben. Manche suchen von sich aus entlastende Gespräche. Andere wollen gar keine Hilfe. Da braucht es ein gewisses Feingefühl.

Johannes Schröer: Besonders schwer zu erreichen sind die Freiwilligen, die als Dolmetscher ganz zentrale Arbeit leisten. Sowohl aus sprachlichen als auch aus kulturellen Gründen – sie kennen oder sehen die Möglichkeit oder Notwendigkeit der psychosozialen Hilfe oft noch weniger.

STANDARD: Welche Rolle spielen die Situation und der Zustand der Flüchtlinge für die Helfer?

Johannes Schröer: Das Erleben von etwas, das so bedrohlich ist, dass es Auswirkungen auf die Psyche hat – eine Naturkatastrophe, ein Unfall, Folter, Krieg und Verfolgung -, kann eine Traumatisierung auslösen. Das kann auch passieren, indem ich das Leid anderer beobachte – wenn ich sehe, wie viele Menschen da in welcher Verfassung bei uns ankommen oder wie Babys auf dem Boden schlafen müssen.

Ulrike Schröer: Als ich die Kinderecke am Hauptbahnhof koordiniert habe, sagten mir 90 Prozent der Helferinnen und Helfer dort, dass sie nicht mehr gut schlafen. Dieser nicht abreißende Strom an Menschen, die Unfassbares erlebt haben und kaum noch stehen können und nichts mehr haben als das, was sie bei sich tragen ... Diese Eindrücke nimmt man mit nach Hause.

STANDARD: Und wie erleben Sie derzeit den Zustand der Flüchtlinge?

Ulrike Schröer: Erschöpfung. Absolute Erschöpfung. Es geht erstmal um das Nötigste: Essen, Kleidung, medizinische Versorgung, einen Schlafplatz. Auswirkungen ihrer Geschichte werden erst später sichtbar.

Johannes Schröer: Wir beobachten neben den vielen, die noch ganz aufs Weiterkommen fokussiert sind und Gefühle wie Angst und Trauer wenig zeigen, auch jene, die von den Erlebnissen psychisch schwer gezeichnet sind. Wir können den Flüchtlingen am Bahnhof von psychischer Seite her zunächst kaum mehr als etwas Aufmunterung und im Bedarfsfall Krisenintervention anbieten. Wenn sie angekommen sind, wo sie langfristig bleiben dürfen, wird es noch viel intensiverer psychosozialer Betreuung bedürfen. Diese sollte man sich unbedingt leisten. Die Folgekosten wären weit höher. (Gudrun Springer, 1.11.2015)