Ein Wahlhelfer begrüßt Erdogan vor der Stimmabgabe.

Ankara/Wien – Es ist sicher die wichtigste Wahl in der Türkei seit dem Machtwechsel vor 13 Jahren: Für die konservativ-islamische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) des heutigen Staatschefs Tayyip Erdogan geht es heute um Alleinregierung oder Macht teilen. Drei Parlamentswahlen in Folge haben Erdogan und das neue islamische Establishment mit immer mehr Stimmen gewonnen. Erst im vergangenen Juni war damit Schluss. Der Einzug der pro-kurdischen Minderheitenpartei HDP ins Parlament kostete Erdogans AKP die absolute Mehrheit. Alle Umfragen sagen auch bei diesen vorgezogenen Parlamentswahlen am Sonntag den Sprung der Partei der demokratischen Völker (HDP) über die Zehn-Prozent-Hürde – die höchste in einem Mitgliedsstaat des Europarats.

Bis zuletzt hämmerte Erdogan den Türken ein: Alleinregierung schafft Stabilität, Koalitionen sind schlecht für das Land. "Diese Wahl wurde notwendig wegen des instabilen Ausgangs der Wahlen vom 7. Juni", sagte Erdogan zu Mittag bei der Stimmabgabe in seinem Wohnviertel im Istanbuler Stadtteil Üsküdar. "Es ist klar geworden, wie wichtig Stabilität für unsere Nation ist."

Erdogans Kalkül

Für einen Teil der türkischen Gesellschaft sind das fragwürdige Äußerungen. Dem autoritär regierenden Erdogan wird viel Verantwortung für die jähe Verschlechterung der Sicherheitslage im Land in den Monaten nach der Juni-Wahl gegeben. Erdogan wollte keine Koalition. Sein Kalkül: Die pro-kurdische HDP mit der kurdischen Untergrundarmee PKK gleichsetzen, einen umfassenden Krieg gegen die offiziell verbotene Arbeiterpartei Kurdistans beginnen und damit die HDP unter die Zehn-Prozent-Hürde zu drücken. Nahezu 200 Soldaten und Polizisten sind seit Juli durch Anschläge der PKK getötet worden. Jedes Begräbnis wühlte das Land auf. Mehrmals kam es zu Szenen, wo Angehörige Erdogan und der Regierung die Schuld für den Gewaltausbruch gaben. Drei Terroranschläge gegen kurdische Aktivisten und Regierungsgegner seit Juni haben die Spannungen in der Türkei noch verschärft.

276 Sitze braucht die AKP mindestens für die absolute Mehrheit. Sie setzt auf kleine Prozentverschiebungen in rund 40 Wahlkreisen im Land, wo ihre Kandidaten im vergangenen Juni nur knapp verloren hatten. Dennoch gilt das Ziel der Alleinregierung als schwer zu erreichen, wenn vier Parteien ins Parlament einziehen. Anders als im Juni will Erdogan dieses Mal erklärtermaßen eine Koalition akzeptieren, sollte das Ergebnis entsprechend ausfallen. Ein Bündnis mit der rechtsgerichteten nationalistischen MHP scheint dann einfacher als eine große Koalition mit den Sozialdemokraten der CHP. Die HDP hatte im Juni 13 Prozent und 80 Sitze erreicht; Umfragen sagen ihr nun elf bis zwölf Prozent voraus.

Wahlschluss 17 Uhr Ortszeit

Knapp 55 Millionen Wähler sind zur Stimmabgabe aufgerufen. Die Wahl der Türken im Ausland ist bereits abgeschlossen, die Stimmzettel sind in Säcken versiegelt nach Ankara geflogen worden. Die Wahlbüros sind im Osten des Landes seit sieben Uhr morgens offen und schließen um 16 Uhr; im Rest des Landes läuft die Wahl von acht Uhr morgens bis 17 Uhr. Die Zeitverschiebung zur MEZ beträgt derzeit zwei Stunden, die Sommerzeit endet in der Türkei erst nächstes Wochenende.

In den Wochen vor der Wahl waren in der Türkei Befürchtungen laut geworden, Erdogan könnte das Kriegsrecht ausrufen, um die Parlamentswahl kurzfristig abzusagen. Derzeit führt ein Übergangskabinett die Regierungsgeschäfte. Premier ist nach wie vor AKP-Chef Ahmet Davutoglu, der formal die Führung der Partei übernahm, als Erdogan 2014 zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Tatsächlich aber hat die Regierung drei arbeitsfreie Tage angeordnet – vom Nationalfeiertag am 29. Oktober bis zum Samstag –, um möglichst vielen Wählern die Reise in ihren Stimmbezirk zu ermöglichen.

Die zentrale Wahlkommission wies am Samstag zudem den Einspruch zweier Bürger zurück, Wahlbeobachter der zivilgesellschaftlichen Gruppe Oy ve Ötesi (Wahl und Danach) nicht zuzulassen. Oy ve Ötesi ist nun wieder in vielen Großstädten bei der Auszählung in den Stimmlokalen präsent.

Vorwurf des Verfassungsbruchs

Erdogan selbst trat auch dieses Mal bei Massenkundgebungen auf, die nur leicht verdeckte Wahlkampfveranstaltungen waren; die Zahl war allerdings kleiner als vor den Wahlen im Juni. Laut Verfassung hat das türkische Staatsoberhaupt unparteiisch zu sein. Die Opposition und seine zahlreichen Gegner in der Gesellschaft werfen dem 61-Jährigen deshalb Verfassungsbruch vor. (Markus Bernath; 01.11.2015)