Wien – Eine Schauspielerin (Stefanie Reinsperger) geht durch die Zuschauerreihen und bietet Apfelstücke an. Die Menschen greifen beherzt zu. Hier findet das Gegenteil von einer Publikumsbeschimpfung statt: eine Selbstbezichtigung, Peter Handkes Sprechstück aus dem Jahr 1965.
Die frühe Literatur des Apfelliebhabers Handke ist, seiner damaligen Studienwahl entsprechend, von juristischen Gesichtspunkten geprägt; Anklage- und Verteidigungsprosa. In Selbstbezichtigung bekennt sich ein Sprecher oder eine Sprecherin (in der Erstfassung war es noch beiderlei) zum allmählichen Schuldigwerden in der Welt. Es könnte ein Schauspieler-Ich sein. Handke hat den Text auch der Schauspielerin Libgart Schwarz ("Für Libgart") gewidmet, seiner ersten Frau.
In seiner Inszenierung für das Volkstheater (Nebenspielstätte Volx/Margareten) hat Dusan David Parízek diesen Gedanken auch bekräftigt. Die Person der Sprecherin bekommt eine Geschichte; sie steht als "echte" Schauspielerin vor uns: Sobald Stefanie Reinsperger, als nacktes Bündel Mensch am Boden kauernd, der eigenen Subjektwerdung gewahr wird ("Ich bin zu Sinnen gekommen"), tauchen wie unscharfe Erinnerungen Kindergesichter der Schauspielerin als Projektionen auf den Wänden links und rechts des weißen Bühnenstreifens auf.
Die Inszenierung hält der Radikalität des Textes stand, vor allem dank dieser Sprechkönigin, die Worte wie unsichere Gebiete abtastet. Einmal presst sie auf dem Boden liegend eine ironisch-feierliche Hymne über das seltsame Wort "Gegenstände" so emphatisch aus ihrem Körper, dass sich dieser wie ein Blasebalg auf und ab wölbt. Die verschiedene Lebensbereiche umfassende, endlose Kette an Eingeständnissen gipfelt dann in den Bekenntnissen einer Schauspielerin, die Rollentexte aus Stücken wie Nora 3 oder Die lächerliche Finsternis zitiert und darüber in einen Geständnisrausch verfällt, der sich immer schneller im Kreis zu drehen beginnt.
Stefanie Reinsperger markiert mit saftigem Idiom das Wienerische, sie schmeckt aber auch mit expressionistischen Blicken eine ironisch hochgeschraubte Bühnensprache ab. Den Kampf mit der Gleichförmigkeit der Satzstellungen hat sie hier eindeutig gewonnen. Man kann ihr in dieser Mischung aus Selbstgeißelung und Wutausbruch nicht nicht folgen. Reinsperger ist ein Magnet, ein Wundergeschöpf aus Selbstermächtigung, Hingabe, Gerissenheit, Witz und Akkuratesse; sie trägt den Titel "Schauspielerin des Jahres" mehr als zurecht.
Diese Selbstbezichtigung bleibt aber nicht nur eine Wunderübung an sprachlicher Inbetriebnahme, sondern wird gefüllt mit Leben und echten Schmerzen eines bedauernden Menschen. Am Ende singt sie "I'm perfectly incomplete". Die Schauspielerin Stefanie Reinsperger ist aber vor allem eines: perfekt darin, nicht perfekt zu sein. Stürmischer Applaus. (Margarete Affenzeller, 1. 11. 2015)