Ankara/Wien – Den jährlichen Bericht über den Fortschritt ihres größten Beitrittskandidaten hat die EU-Kommission auf die Zeit nach den Parlamentswahlen verschoben. Fertig ist er schon, nur politisch passt der Türkeibericht nicht mehr ins Umfeld. Brüssel und die EU-Regierungen wollen ein Abkommen mit Ankara zur Lösung der Flüchtlingskrise, keinen neuen Streit über Kritik an der Gängelung von Justiz und Medien, die Staatschef Tayyip Erdogan und seine Regierung als ungehörig empfinden.

"Was geht das euch an", schnappte Erdogan am Samstag auf die Frage eines Journalisten zurück. "Kümmert euch um Wahlen in euren Ländern!" Der Staatschef zeigte sich erbost über einen offenen Brief, den ihm 50 internationale Medien nach der Zwangsverwaltung regierungskritischer Sender und Zeitungen geschrieben haben. "Wir bleiben äußerst besorgt über die Verschlechterung der Pressefreiheit in der Türkei und ihre Folgen auf die Wahlen am 1. November und darüber hinaus", erklärte das Internationale Presse Institut (IPI) in Wien bei der Vorstellung eines neuen Türkeiberichts am Samstag.

Sender übernommen

Die türkische Justiz hatte vergangene Woche die Koza-Ipek-Holding in Ankara unter Kuratel gestellt. Die Firmengruppe gehört einem Unternehmer, der die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen unterstützt, einem früheren Bundesgenossen Erdogans. Zur Mediengruppe der Holding zählen vor allem zwei TV-Sender –Bugün TV und Kanaltürk – und zwei Tageszeitungen – Bugün und Millet. Die Sender wurden abgeschaltet, die Leitung der Zeitungen ausgetauscht; sie erscheinen nun mit regierungsfreundlichen Artikeln.

Die deutsche Kanzlerin war am 18. Oktober, zwei Wochen vor dem Wahltag, zu einem Dringlichkeitsbesuch nach Istanbul gereist. Angela Merkel traf den türkischen Premier Ahmet Davutoglu zu einem längeren Gespräch über die Flüchtlingskrise, anschließend kürzer auch Präsident Erdogan, der laut Verfassung formal keinen Einfluss auf die Tagespolitik nehmen sollte. Beide Männer, so die Überlegung der deutschen Diplomatie, werden auch nach der Wahl im Amt sein.

Vier Zusagen von Merkel

Merkel kam stellvertretend für die EU und sagte zu, die vier Forderungen zu erfüllen, die ihr von Davutoglu vorgelegt worden waren:_Die Türkei soll wieder an EU-Gipfeltreffen teilnehmen können, neue Verhandlungskapitel würden geöffnet, die Visa-Liberalisisierung würde beschleunigt und eine finanzielle Hilfe von wenigstens drei Milliarden Euro für die Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei von der EU geleistet. 7,2 Milliarden Euro gab die Türkei seit Beginn der Flüchtlingswellen aus Syrien im Frühjahr 2011 nach Angaben des türkischen Amts für Katastophenschutz aus.

Während die Öffnung neuer Kapitel bei den Beitrittsverhandlungen derzeit eher symbolischen Wert hat, versprechen sich Politik und Wirtschaft mehr von der Visa-Liberalisierung. Sie sollte Mitte 2017 beginnen und könnte nun um ein Jahr vorgezogen werden. Technisch sei das schwierig, merkt der Istanbuler Think tank IKV an. Die Erstellung neuer biometrischer Pässe zum Beispiel brauche mehr Zeit. (Markus Bernath, 1.11.2015)