Es klingt wie ein Befreiungsschrei. "Recep Tayyip Erdoğan! Recep Tayyip Erdoğan!", schreit eine Gruppe von Jugendlichen in die Nacht. Rhythmisch haut ein anderer auf eine große Trommel. Eine türkische Fahne bedeckt den Rücken vom Hals bis zu den Fußsohlen. Immer wieder recken sie die Fäuste in die Höhe. Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) hat die Wahl gewonnen. Und nicht nur das: Sie hat sie haushoch gewonnen. Zwischen 41 und 43 Prozent hatten ihr die seriösen Umfrageinstitute vorausgesagt. Trotz allen nach außen verbreiteten Optimismus gab es selbst innerhalb der AKP Zweifel, dass es für die absolute Mehrheit reichen würde. Und jetzt das: Knapp 49 Prozent der Stimmen hat die AKP nach dem vorläufigen Endergebnis geholt.
"Wir haben es allen gezeigt", sagt einer der Jugendlichen. Sie fassen sich an den Händen, drehen sich im Kreis, stampfen auf den Boden. Die Szene spielt sich im Zentrum von Istanbul ab. In der Nacht des 7. Juni fand nicht weit von hier eine andere Feier statt: Damals jubelten Kurden und ein paar Linke über den Wahlerfolg der Demokratischen Partei der Völker (HDP). Sei feierten ihren Hoffnungsträger Selahattin Demirtaş, den Kovorsitzenden der HDP. An der Ecke vor dem Büro der HDP im Armenviertel Tarlabaşı sind zwei Wasserwerfer aufgefahren, einer richtet seine Spritzkanone in die dunkle Straße. Doch dort ist, als wir vorbeikommen, niemand unterwegs. Die HDP hat die Zehn-Prozent-Hürde mit 10,5 Prozent knapp geschafft.
Zusammenstöße in Diyarbakir
Am frühen Abend kam es in der kurdischen Metropole Diyarbakir zu Zusammenstößen zwischen der Polizei und Jugendlichen, als sich der Erfolg der AKP abzeichnete. Die Polizei ging mit Wasserwerfern und Tränengas gegen die randalierenden Demonstranten vor. Demirtaş rief seine Anhänger zur Ruhe auf. Gemeinsam mit seiner Kollegin Figen Yüksekdağ trat er vor die Kameras und akzeptierte das Ergebnis. Angesichts des unfairen Wahlkampfs sei das Ergebnis ein Erfolg, sagte Demirtaş. Die HDP hatte nach dem doppelten Selbstmordanschlag auf eine Friedensdemonstration in Ankara am 10. Oktober, der 102 Tote forderte, aus Furcht vor weiteren Anschlägen sämtliche Großveranstaltungen abgesagt. Er werde den Friedenskurs fortsetzen, kündigte Demirtaş an.
In der südostanatolischen Grenzstadt Nusaybin gab es am Sonntag eine Explosion. Zwanzig Personen sollen verletzt worden sein, berichtete die Online-Ausgabe der Tageszeitung "Radikal". Die Sorge vor einer weiteren Zunahme der Gewalt dürfte einer der Gründe für den überraschenden Wahlerfolg der AKP sein.
Vor der Parteizentrale in Istanbul zünden Anhänger spätabends ein Feuerwerk an und schießen Freudenschüsse in die Luft. Im Istanbuler Stadtteil Kasımpaşa, wo Erdoğan aufgewachsen ist, ziehen Anhänger in großen Gruppen durch die Straßen. Dazu schwenken sie die türkische Fahnen und die Parteifahne der AKP. "Der Westen wollte verhindern, dass die Türkei groß und mächtig wird", sagt ein Mittvierziger. "Aber wir sind stärker. Niemand wird uns aufhalten." (Inga Rogg, 1.11.2015)