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Große Euphorie bei Erdoğan-Anhängern in den türkischen Straßen.

Foto: AP Photo/Emrah Gurel

Istanbul – Nach dem Wahlsieg der Regierungspartei AKP in der Türkei haben sich am Montag die Blicke auf eine Verfassungsreform gerichtet. Ministerpräsident und AKP-Chef Ahmet Davutoğlu rief die Oppositionsparteien im Parlament auf, zusammen mit der Regierungspartei eine neue Verfassung auszuarbeiten.

Die AKP strebt die Umstellung auf ein Präsidialsystem an, das die Vollmachten von Staatsschef Recep Tayyip Erdoğan beträchtlich ausweiten würde. Die AKP verfügt im neuen Parlament laut inoffiziellen Ergebnissen über 315 von 550 Sitzen und kann damit allein regieren. Für Verfassungsänderungen sind jedoch mindestens 330 Stimmen im Parlament erforderlich – für dieses Vorhaben braucht die AKP also Verbündete. Von den drei Oppositionsparteien im Parlament lagen am Montag zunächst keine Reaktionen auf Davutoğlus Appell vor.

Die AKP hatte bei der Parlamentsneuwahl am Sonntag überraschend stark abgeschnitten und war auf 49,3 Prozent der Stimmen gekommen. Die säkularistische CHP erreichte als stärkste Oppositionskraft rund 26 Prozent. Die nationalistische MHP kam auf zwölf Prozent, die Kurdenpartei HDP auf 10,7 Prozent ein – auch sie ist damit im Parlament vertreten.

Wahlbeobachter des Europarates kritisiert Urnengang

Einer der Wahlbeobachter des Europarats in der Türkei, der Schweizer Sozialdemokrat Andreas Gross, kritisierte indes die Wahl. Die Türken hätten zwar die freie Wahl zwischen verschiedenen Parteien gehabt, sagte er am Montag im Deutschlandradio Kultur. Von einer "Fairness des Prozesses" könne aber nicht die Rede sein. Seit der Wahl im Juni habe es viel Gewalt gegeben, Journalisten seien eingeschüchtert, Zeitungen und Fernsehsender dichtgemacht worden, kritisierte Gross. Das habe auch zu Selbstzensur geführt. Die Gewalt habe zudem den Wahlkampf behindert.

Einer der wichtigsten Wirtschaftsverbände der Türkei appellierte am Montag an alle Parteien, zum Reformkurs zurückzukehren. Der Wirtschaftsverband Tüsiad, der einige der größten Unternehmen des Landes vertritt, rief die Politik auf, die gesellschaftliche Polarisierung abzubauen und Reformen anzugehen. Die demokratischen Standards müssten angehoben und der Rechtsstaat gestärkt werden, forderte der Verband. Auch die Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union sollten vorangetrieben werden. Sie treten seit Monaten auf der Stelle.

Erdoğan wird ein autokratischer Regierungsstil nachgesagt. Mit seinem rigidem Vorgehen gegen Oppositionelle hat er zahlreiche Kritiker auf den Plan gerufen. Sie sehen in der Türkei europäische Standards der Presse- und Meinungsfreiheit verletzt. (APA, 2.11.2015)