Zuerst das Feilschen um Griechenland, jetzt jenes um die Aufteilung der Flüchtlinge. Von außen an Europa herangetragene Herausforderungen treffen auf eine in Einzelinteressen zerfallende Struktur. Leadership? Europäische Werte als Anker in der Brandung geopolitischer Ereignisse? Fehlanzeige.

Beispiel Entwicklungspolitik: Inmitten der Flüchtlingskrise beschließen die EU-Entwicklungsminister, "das EU-Engagement zu erhöhen und die Kooperation mit Drittstaaten im Bereich Migration (...) zu verstärken". Die Nichtregierungsorganisationen aber schreien auf, dass immer mehr Entwicklungsgelder in Grenzsicherheit statt in die Bekämpfung der Armut fließen. Der europäischen Politik fehlt die klare Richtung.

Dabei braucht die Welt Europa wie nie zuvor. Ein Europa, das seine gemeinsamen Wurzeln in der griechischen Antike hat, das Reformation, Renaissance und Aufklärung hervorgebracht hat und das, trotz der zu verantwortenden dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte, auf das humanistische Menschenbild baut. Genau jetzt, zum Zeitpunkt globaler Machtverschiebungen, sollten Europäer, europäische Institutionen, Unternehmen und NGOs ausschwärmen und mit ihrer Art der Zusammenarbeit, ihren Leistungen und ihren Produkten die Menschen der neuen Mittelschicht der aufstrebenden Länder für Europa begeistern.

Dafür aber müssten wir einige bisher als unumstößlich geltende Annahmen verwerfen:

· Erstens Europa ist reich und der Mittelpunkt der Welt. Falsch. Wir haben einen noch nie gekannten materiellen Wohlstand, ja. Aber zum einen ist dieser auf Schulden gebaut. Zum andern ist er ohne ein Bewusstsein für Sinn und Zweck unserer Gesellschaften nur flüchtiger statischer Besitzstand, der Perioden großer Veränderungen nicht überdauern wird. Die Dynamiken der zunehmenden Vernetzungen und Verflechtungen gehen von den USA, China und den neuen aufstrebenden Ländern aus. Europa muss um seinen Platz in der Welt und das Wohlergehen seiner Bürger höchst besorgt sein.

· Zweitens Die Welt wird immer ungerechter. Falsch. Die Reichen werden reicher, ja, der Westen hat mit der gehebelten Finanzwirtschaft seinen Beitrag dazu geleistet. Aber die Armen werden auch "reicher", die Zahl der Menschen in absoluter Armut geht relativ und absolut zurück. Arbeitsteilung und Handel sind eine Konstante der Menschheitsgeschichte, die diese permanente "Flucht aus Armut und Krankheit" (Nobelpreisträger Angus Deaton) ermöglicht hat. Jetzt haben Vernetzungen und Verflechtungen eine neue Dimension erreicht, eine globale Gesellschaft ist entstanden.

· Drittens Der Kampf gegen Armut ist auf globaler Ebene zu führen. Falsch. Die Bekämpfung der Armut ist eine globale Priorität, ja. Das haben auch die Regierungen der Welt im September in New York mit den Sustainable Development Goals beschlossen. Aber es war nicht die westliche Entwicklungspolitik, die in den letzten Jahren hunderte Millionen von Menschen aus der Armut geholt hat. Es waren nationale Regierungen und lokale Politiken zusammen mit Dynamiken der Globalisierung und Digitalisierung.

· Viertens Europa muss seine eigenen Interessen zugunsten jener der armen Länder zurückstellen. Falsch. Ein dem humanistischen Menschenbild verpflichtetes Europa muss seine Interessen offensiv einbringen. Und es muss die globale Gesellschaft aktiv mitgestalten und beim größten Hebel ansetzen: bei der Mittelschicht der aufstrebenden Länder. Sie ist unser natürlicher Partner. Sie hat gleichgerichtete Interessen nach Sicherheit, Freiheit, Wohlstand und persönlicher Sinnerfüllung. Und sie ist das wichtigste Bollwerk gegen autoritäre und oligarchische Staatsapparate.

· Fünftens Eine Ausweitung der Entwicklungshilfe vermindert Fluchtursachen. Falsch. Die großen Flüchtlingsbewegungen gehen immer auf spezifische Krisen zurück. Hier müssen Sicherheitspolitik und humanitäre Hilfe ansetzen. Entwicklungszusammenarbeit aber kann Flüchtlingsströme kaum beeinflussen.

Wir müssen klarer unterscheiden zwischen humanitärer Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Bei Ersterer geht es um direkte Unterstützung und Hilfe für Opfer von Naturkatastrophen oder Krisen wie z. B. die Menschen, die der "Hölle Syriens" (John Kerry) zu entfliehen versuchen. Bei Letzterer geht es im Wesentlichen um den Aufbau von Strukturen zur Armutsbekämpfung. Im Jahr 2013 wurden vom Westen lediglich knapp elf Milliarden US-Dollar für humanitäre Hilfe aufgewendet, für Entwicklungszusammenarbeit aber 124 Milliarden Dollar (OECD).

Die humanitäre Hilfe müssen wir erhöhen, denn je vernetzter die Welt, umso näher rücken wir an die Krisen der Welt heran und umso mehr müssen wir zu deren Bewältigung beitragen. Die Mittel der Entwicklungszusammenarbeit sollten wir aber für eine Zusammenarbeit Europas mit der neuen Mittelschicht der aufstrebenden Länder einsetzen. Denn es wird die zukünftige Vernetzung mit diesen Menschen sein, die über den zukünftigen Platz Europas in der Welt entscheiden wird. (Hans Stoisser, 2.11.2015)