Und was nun? Was macht man mit einem vierten großen Sieg bei Parlamentswahlen und weiteren vier Jahren allein an der Macht? Für die Türkei von Staatschef Tayyip Erdoğan öffnen sich zwei Wege: Reform und Ausgleich oder Vergeltung und Machtausbau. Wer Erdoğans bisherigen Kurs verfolgt hat, weiß, wohin die Reise wohl geht. Das Imperium schlägt zurück. Nach fünf Monaten erzwungener Pause stehen die Zeichen auf Revanche.

Lira und Leitindex an der Istanbuler Börse sind am Tag nach dem Wahlsieg in die Höhe geschossen, und junge Türken denken nun ernsthaft ans Auswandern – an einen Job in den USA oder wenigstens irgendwo in Europa, wo das Leben normaler ist. Stabilität oder Demokratie scheinen eigentlich zur Wahl am Sonntag gestanden zu haben.

Noch ist nicht entschieden, wer in Zukunft die Wirtschaftspolitik der Türkei führt: Ali Babacan, Gleichgesinnte des langjährigen Wirtschaftsministers, oder aber Erdoğans Schwiegersohn Berat Albayrak und Verschwörungstheoretiker aus dem Beraterkreis des Präsidenten. Die Türkei ist ein introvertiertes Land. Der politische Weg wird im Inneren festgelegt, auf Rat und Kritik von außen gibt die konservativ-islamische Führung nichts. Dabei würde die Region einen soliden Partner verlangen: Östlich der Türkei beginnt die Welt der Kriege und Flüchtlinge.

Der türkische Regierungs- und Parteichef Ahmet Davutoğlu zieht nun Aufmerksamkeit auf sich. Der Wahlsieg der AKP ist auch sein Werk. Er war schließlich rastlos auf Wahlkampftour, während Erdoğan sich dieses Mal zurückgenommen hat. Davutoğlu könnte das Korrektiv sein, der Mann, der mäßigend auf den Staatschef wirkt. Doch Davutoğlu ist eine schwache Hypothese. Der Premier und Parteivorsitzende ist eingerahmt von Erdoğan-Männern. Die Politik wird längst im Präsidentenpalast in Ankara gemacht.

13 Jahre Alleinregierung der AKP haben ein Herrschaftssystem entstehen lassen, das nur mit Feinden funktioniert: die türkische Regierung gegen die Armee, gegen die alten islamfeindlichen Eliten in Wirtschaft und Ministerien, gegen das christliche Abendland, gegen die Diktatoren in Kairo und Damaskus, gegen das Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen und nun auch wieder gegen die PKK, die kurdische Untergrundarmee.

Die Opposition in der Türkei sei schwach und die AKP deshalb stark, so heißt das alte Lied. Es stimmt nicht. Kemal Kiliçdaroglu hat seine Republikanische Volkspartei (CHP) sozialdemokratisiert; Selahattin Demirtaş gelang mit der Partei der demokratischen Völker (HDP) eine neue, für Erdoğan gefährliche Fusion von kurdischen, nichtkurdischen, linken und liberalen Wählergruppen. Doch die AKP arbeitet mit der Angst der Türken vor den Feinden. Es ist ihr Erfolgsrezept.

Vieles deutet deshalb auf Erdoğans Wunsch nach Vergeltung und Ausbau der Macht hin. Den Angriff auf die beiden letzten kritischen Mediengruppen im Land – Feza und Dogan – haben AKP-Politiker schon angekündigt. Präsidentenbeleidigung und Unterstützung des Terrorismus sind die beiden Straftatbestände, mit denen nun zwölfjährige Kinder oder börsennotierte Unternehmen ein Verfahren an den Hals bekommen. Der neue Wahlsieg der Konservativ-Religiösen in der Türkei mag nicht für den Verfassungswechsel reichen. Doch Erdoğans Präsidialsystem kann bereits beginnen. (Markus Bernath, 2.11.2015)