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Ausgelassener Jubel bei den Anhängern von Tayyip Erdoğans AKP in Istanbul ...

Foto: AFP/Ozan Kose

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... in den Kurdengebieten fielen die Reaktionen allgemein verhaltener aus.

Foto: EPA/Sedat Suna

Tayyip Erdoğan hat es allen gezeigt. Wieder einmal. Selbst im eigenen Lager hatte es Zweifel gegeben, doch seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) fuhr einen furiosen Wahlsieg ein. "Revolution an den Wahlurnen", titelte die regierungsnahe Sabah am Montag; "Novemberrevolution" ein anderes Erdoğan-höriges Sprachrohr.

Der Präsident selbst ging am Morgen erst einmal in das berühmte Heiligtum Eyüp am Goldenen Horn. Die Wähler hätten sich für Stabilität ausgesprochen, sagte der strahlende Präsident nach dem Gebet. Gleichzeitig rief er auf, sich der "großen Verschwörung" gegen die Türkei zu widersetzen. "Ich habe immer gesagt: 'Ein Volk, eine Flagge, eine Nation, ein Staat'." Um dies zu bestärken, müssten die Türken dem finsteren Treiben ein Ende bereiten.

Weiter wie bisher

In der Wahlnacht hatte der bisherige und wohl auch künftige Premier Ahmet Davutoğlu versöhnlichere Worte parat, als er von Brüderlichkeit sprach und davon, dass sich die Türkei nicht von Demokratie und Recht verabschiede.

Erdoğan machte freilich klar: weiter so wie bisher. Dabei ist der Kreis der Feinde, von denen er sein Land umzingelt wähnt, letzthin immer länger geworden: etwa die Protestbewegung, die 2013 für mehr Freiheit demonstrierte; dann die Gülen-Bewegung; auch kritische türkische und ausländische Medien; und gewählte Vertreter der Kurden, die angeblich die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) unterstützen.

Reaktionen in der Wirtschaft

Der Unternehmerverband Tüsiad forderte einmal mehr, den tiefen Riss, der durch die Gesellschaft geht, zu überwinden, und forderte Reformen an, um Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat zu stärken. Für Reformen sprach sich auch der ehemalige Staatspräsident Abdullah Gül aus.

Die Börse machte indes deutlich, womit auch die meisten Experten rechneten: Unternehmen aus dem Umfeld der Regierung legten zu, während jene, die im Wahlkampf zu Feinden erklärt wurden, stark an Wert verloren: neben der Koza-Ipek-Holding, die samt ihren Medien in der vergangenen Woche staatlicher Kontrolle unterstellt wurde, auch die Dogan-Gruppe, zu der die einflussreiche Tageszeitung "Hürriyet" gehört.

Geschwächte Kurden

Ein "Sieg der Angst" titelte demgemäß am Montag "Cumhuriyet", die seit geraumer Zeit ebenfalls scharfen Angriffen durch die Regierung ausgesetzt ist. Mehr noch als Angst war es Depression, die sich unter großen Teilen der Opposition und Regierungskritikern breitmachte.

Das gilt auch für die Kurden. Die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) hat es zwar ins Parlament geschafft, aber sie ist geschwächt. Daran ist wohl auch die PKK schuld, die mit ihren Angriffen viele Wechselwähler wieder in die Arme der AKP getrieben hat. AKP-Vertreter kündigten am Montag an, die HDP werde auch künftig kein Verhandlungspartner im Friedensprozess sein.

Furcht vor radikalisierter Jugend

Kann die Partei auf demokratischem Weg nichts erreichen, spielt das unweigerlich den Hardlinern in die Hände. Die weitere Radikalisierung der unzufriedenen Jugend wäre programmiert.

Die nötige Mehrheit, um die Verfassung im Alleingang zu ändern, hat die AKP verfehlt. Erdoğan müsste sich auf Kompromisse einlassen, um sein Ziel eines autoritären Präsidialsystems zu verwirklichen. Kürzlich hatte er aber erklärt, dieses System gebe es bereits: Er sei vom Volk gewählt.

Wähler im Ausland

Große Popularität genießt Erdoğan weiterhin bei den wahlberechtigten Türken im Ausland. In Deutschland bekam die AKP rund 60 Prozent, in Österreich sogar 70, allerdings bei sehr geringer Wahlbeteiligung. Dem entgegengesetzt war das Wahlverhalten in der Schweiz: Dort gab es mehr als 50 Prozent für die HDP, die AKP kam auf 27 Prozent. (Inga Rogg aus Istanbul, 2.11.2015)