"Ist das nicht unglaublich, dass ich 20 Jahre nach Rabins Ermordung meine Hoffnung in einen Araber lege?" Anat Hoffman über die Integrationsfigur Ayman Odeh.

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Friedensaktivisten in Tel Aviv gedenken mit Slogans gegen Premier Netanjahu der Ermordung Rabins.

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STANDARD: Es ist 20 Jahre her, dass Yitzhak Rabin vom jungen jüdischen Rechtsradikalen Yigal Amir ermordet wurde. Hat sich Israel von dieser Tat je erholt?

Hoffman: Nein. Es war das vielleicht erfolgreichste Attentat der Welt. Die Ermordung von Martin Luther King oder John F. Kennedy hat den Lauf der Geschichte nicht verändert, Rabins Tod sehr wohl.

STANDARD: Spaltet die Ermordung Rabins am 4. November 1995 immer noch das Land?

Hoffman: 50 Prozent der orthodoxen Juden zweifeln an der offiziellen Tatversion und vermuten eine Verschwörung dahinter. Es ist auch falsch, dass man den Attentäter totschweigt. Wir sollten von Amir hören. Er ist stolz darauf, dass er mit rabbinischer Unterstützung gehandelt hat. Diese Art des messianischen Fanatismus wird Israel noch zerstören, und wir wehren uns dagegen nicht genug. Wir bekämpfen die Fanatiker bei unseren Nachbarn, aber nicht die eigenen. Wie kann es sein, dass wir zwar alle finden, die Terroranschläge gegen Israelis verüben, aber nicht die Täter, die Moscheen und arabische Familien im Schlaf anzünden? Diese Gewalt geht nicht von einem Mob aus, sondern von Rabbinern, die das Judentum für die Botschaft missbrauchen, dass Juden mehr wert sind als andere.

STANDARD: Erklärt sich daraus der wachsende Konflikt um den Tempelberg in Jerusalem?

Hoffman: Es gab lange eine Vereinbarung, dass orthodoxe Juden den Tempelberg nicht betreten. Nicht mehr: Jetzt unterstützt der israelische Staat ein Museum, das zeigt, wie man die Moscheen beseitigt und einen neuen Tempel errichtet. Und die Vize-Außenministerin Zipi Hotovely erklärt öffentlich, sie träume davon, dass die israelische Fahne auf dem Tempelberg weht. Der Innenausschuss der Knesset hat 18 seiner 40 Sitzungen über den Tempelberg abgehalten.

STANDARD: Aber Premier Benjamin Netanjahu betont, dass Israel den Status nicht verändern wird.

Hoffman: Sie bauen nichts auf dem Tempelberg, aber der verbale Status quo hat sich geändert. Ein Mitglied der rechten orthodoxen Gemeinde, das respektiert werden will, muss heute auf dem Tempelberg beten.

STANDARD: Warum sollen Juden das denn nicht tun dürfen?

Hoffman: Im Prinzip bin ich für die Freiheit, überall zu beten, aber es hängt vom Ton ab. Diese rechten Politiker verfolgen eine rassistische Rhetorik. Muslime sehen das, und nicht nur Juden, die auf dem Tempelberg beten. Ein Plakat, das die Beseitigung der Moscheen fordert, soll zwar legal sein. Aber der Staat darf es nicht unterstützen.

STANDARD: Die ultraorthodoxen Parteien in der Knesset galten einst als potenzielle Partner für den Frieden. Sind sie das immer noch?

Hoffman: Ja, die Tempelbergbewegung geht nicht von ihnen aus, sondern von den religiösen Nationalisten wie Naftali Bennett. Die Ultraorthodoxen bedrohen meine Religion, die religiösen Zionisten meine Demokratie. Ich studiere die gleichen Bibeltexte wie sie und lese etwas ganz anderes darin. Was wir hier erleben, ist die wichtigste Debatte unserer Zeit, nicht nur für Israel, sondern für die ganze Welt.

STANDARD: Aber sind nicht auch die Messerattacken auf Israelis Zeichen eines religiösen Fanatismus, der auch vom Ausland aus über soziale Medien geschürt wird?

Hoffman: Die Attacken werden von den Medien überschätzt. Wir sagen, das ist die Intifada des Bestecks. Natürlich schadet es uns, aber es bedroht nicht Israels Existenz. Und es zeigt, wie die Besatzung junge Menschen zu Verzweiflungstaten treibt. Damit die sozialen Medien das Blut zum Kochen bringen können, muss die Temperatur schon sehr hoch sein.

STANDARD: Sehen Sie irgendeine Hoffnung für den Frieden?

Hoffman: Ja, und sie heißt Ayman Odeh, der Chef der Vereinigten Liste. Er ist der Politiker, der Frieden schaffen kann, er ist der Messias der Linken. Ist das nicht unglaublich, dass ich 20 Jahre nach Rabins Ermordung meine Hoffnung in einen Araber lege? (Eric Frey, 4.11.2015)