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So klein eine Geste sein mag, so groß kann sie für jemanden anderen sein.

Foto: Train of Hope / Andrew Nicolas

Es sind neun Wochen vergangen, seitdem ich den Fuß auf den Hauptbahnhof gesetzt habe. Es sind knapp sechs Wochen vergangen, seitdem ich meinen Job gekündigt habe. Eine Entscheidung, die mir nicht schwer gefallen ist. Eine Entscheidung, die trotzdem wohlüberlegt war. Es ist so absurd, darüber zu sprechen, darüber zu schreiben. Und trotzdem ist es eine der Fragen, die mir Journalisten am liebsten gestellt haben.

Job kündigen, um unbezahlte Flüchtlingshilfe zu betreiben. Ist es vernünftig? Wahrscheinlich nicht. Ist es richtig? Wahrscheinlich schon. Was weiß ich. Ich kann hier viel sagen, aber im Endeffekt lässt es sich in recht wenigen Worten zusammenzufassen: Es gibt Dinge, die jetzt getan werden müssen. Es gibt Dinge, die man später auch noch tun kann. Natürlich gibt es auch andere, die helfen. Natürlich würde "Train of Hope" heute ähnlich aussehen. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass Dinge getan werden müssen, dass geholfen werden muss. Und da ist egal, wie. Hauptsache, man hilft.

Prioritäten kann man ändern

Interviews, Podiumsdiskussionen, Arbeitsgespräche – alles schön und gut. Das ist auch mal ganz nett zur Abwechslung, aber das ist nur Mittel zum Zweck. Mehr Menschen aufmerksam machen. Auf das Problem, das allgegenwärtig ist, aber zu wenige Menschen sehen wollen: Hier kommen Menschen an, die die Hölle durchgemacht haben. Hier kommen Menschen an, die nicht wissen, wo sie die nächste Nacht verbringen werden, geschweige denn die nächsten Wochen, Monate, Jahre. Hier kommen Menschen an, die seit Wochen nirgendwo mehr freundlich willkommen geheißen werden.

Und ja, das tun wir. Und ja, das werden wir weiterhin tun. Und wenn das heißt, dass ich noch weitere Wochen, Monate ohne fixes Einkommen leben muss, meine Güte. Die Miete ist gedeckt. Auf den ganzen Rest kann ich gut und gerne mal verzichten. Weil dieser ganze Alltagsluxus, die stundenlangen Shoppingtouren, all das ist plötzlich ganz nebensächlich. Aber das ist ja das Schöne an Prioritäten: Man kann sie ändern.

Anstrengend und fordernd

Die vergangenen neun Wochen kommen mir vor wie Jahre, wie Stunden, wie Jahrzehnte, wie Tage. Es ist ein Mikrokosmos, in den man einfach so eingesaugt wird. Einmal drin, kommt man schwer wieder raus. Und es gibt Tage, da will man all das hinwerfen, weil man nicht mehr kann, weil man zu lange nicht geschlafen hat, weil alles plötzlich einbricht. Aber das ist okay. Das darf man zulassen. Dann schläft man eine Nacht drüber und am nächsten Tag sieht schon wieder alles anders aus. Quasi ein Reset der Nerven.

Aber natürlich mag ich nicht lügen. Natürlich ist es anstrengend, natürlich fordert es viel. Meine Freunde sehe ich seit Wochen nicht mehr und wenn, fühlt es sich absurd an. Da braucht es erst ein paar Stunden, bis man wieder auf einem gewissen Level der Normalität angelangt ist und über Dinge wie Jobs, Liebesleben und Gossip reden kann. Und dann klingelt das Telefon und man eilt zurück zum Bahnhof.

Eine Familie findet ihr Kind nicht. Ein Ehepaar will nach Schweden, hat aber kein Geld. Die Lebensmittel werden knapp. Es regnet. Presse ist da. Züge kommen, Busse fahren. Andere Freiwillige, die zu Freunden wurden, brauchen eine Schulter. Man selbst braucht auch eine. Man findet sich im Leid, man findet sich zwischen Kisten voller Spenden, etwas Verzweiflung und immer zu viel Hoffnung. Das Kind ist plötzlich aufgetaucht, Eltern, die vor Freude weinen – und man selbst weint gleich mit. Vor Erleichterung, vor Freude. Und weiß, warum man all das macht. Warum man alle Strapazen auf sich nimmt.

Was warten kann

Weil man helfen muss. Weil es nicht nur ein inneres Bedürfnis ist, sondern das einzig Richtige, was man tun kann. Ich weiß, das klingt pathetisch. Aber die Option, in ein Shoppingcenter zu fahren, den Abend mit Freunden zu verbringen, den Tag nur am Sofa zu liegen und Serien zu gucken, all das ist gerade nebensächlich. Das wartet alles. Das kann man in ein paar Wochen noch immer.

Aber jetzt gerade sind hier Menschen auf der Flucht. Menschen, die hier bei uns ankommen. Und auch sonst überall. Und wir können Lichtblicke sein. Wir können diejenigen sein, die etwas verändern, auch wenn es nur Kleinigkeiten sind. Denn so klein eine Geste sein mag, so groß kann sie für jemanden anderen sein. Ein Ladekabel, das den langersehnten Anruf zur Familie ermöglicht. Das erste warme Essen seit Tagen. Eine warme Decke. Eine schutzgebende Hand. Ein aufmunterndes Lächeln. All das sagt eins: Hallo! Wir sind alle Menschen, egal woher. Wir sind alle Menschen, wir sind alle eins.

Menschen, keine ominöse Masse

Man muss endlich sehen, dass hier keine ominöse Masse ankommt, sondern Menschen. Menschen. Menschen. Menschen. Frauen, Männer, Kinder. Alle mit Köpfen voller Ideen, Gedanken, Träume, Wünsche. Alle voller Tatendrang und Hoffnung auf Besserung, auf eine bessere Zukunft. Auf ein Leben, das nicht von Krieg dominiert wird. Auf ruhige Nächte ohne die Angst vor Anschlägen im Hinterkopf. Auf ein neues Leben.

Denn egal wie furchteinflößend es ist, irgendwo ein neues Leben aufzubauen, es ist nicht ansatzweise so furchteinflößend wie Krieg. Wie Bomben. Wie Schlauchboote auf dem Mittelmeer. Wie Zäune. Wie bewaffnete Soldaten. Wie Panzer. Wie Hunger. Wie Durst. Wie Schlafplätze im Freien bei Minusgraden.

Augen und Herz öffnen

Ich kann niemandem sagen, was er zu tun hat, aber ich werde nie aufhören, um eines zu bitten: Macht die Augen auf. Und wenn ihr schon dabei seid, auch gleich das Herz. Und tut etwas. Sagt nicht in einem Jahr, dass ihr gerne etwas getan hättet. Tut jetzt was. Und wenn ihr nur eine Decke irgendwohin bringt. Oder zwei Flaschen Wasser. Die eine Decke kann einem Menschen eine Nacht retten. Die zwei Flaschen Wasser können jemandem neue Kräfte geben. Es sind die kleinen Dinge, die viel bewirken können. Helft, wie und wo ihr könnt. Helft auch, wenn es nur für eine Stunde ist. Ihr werdet sehen, ihr gebt damit nicht annähernd so viel, wie ihr bekommt. (Ashley Winkler, 5.11.2015)