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Erfahrung ist wertvoll – aber sie ist nicht alles.

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EbM-Experte Gerald Gartlehner nimmt für derStandard.at regelmäßig aktuelle Studien unter die Lupe.

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Der Aderlass hat über 2000 Jahre lang Patienten geschadet und nicht wenige getötet. Warum hat er sich trotzdem so lange gehalten? Waren die Ärzte und Behandler mordlustige Sadisten?

Nein, ganz im Gegenteil. Der Aderlass hat sich so lange gehalten, weil die Behandler damit gute Erfahrungen gemacht haben – schließlich wurden viele Patienten nach einem Aderlass wieder gesund. Erst Militärärzte im 19. Jahrhundert äußerten Zweifel, dass Aderlass bei schweren Verwundungen wirklich hilfreich sei.

Bis dahin war es gängige Praxis, auch Schwerstverwundete zur Ader zu lassen. Egal wie absurd eine Behandlung ist, es gibt immer jemanden, der damit gute Erfahrungen macht. Heute wissen wir, dass die Menschen damals trotz des Aderlasses wieder gesund wurden und ähnliches gilt für andere Scheinbehandlungen. Wenn die persönlichen Erfahrungen so in die Irre führen können, wie verlässlich ist dann Erfahrung überhaupt?

Grundpfeiler der modernen Medizin

In der modernen, evidenzbasierten Medizin (EBM) sind Studien ein zentraler Punkt. Sie leisten einen entscheidenden Beitrag dazu, was der aktuelle Stand des Wissens ist. Doch das ist nur eine von drei Säulen der EBM – genauso wichtig sind die Erfahrung der Ärztinnen und Ärzte und die Werte und Präferenzen der Patienten.

Zu früheren Zeiten der "Götter in Weiß" galt in erster Linie Erfahrung und persönliche Meinung – Studien und Patientenwerte kamen zu kurz. Kommt jetzt neben all den Studien die Erfahrung zu kurz?

Wo Erfahrung nützt…

Ärzte haben die Aufgabe, ihren Patienten alle Möglichkeiten mit sämtlichen Vor- und Nachteilen zu erklären. Dafür müssen sie den aktuellsten Stand des Wissens kennen, richtig interpretieren und an die Situation des individuellen Patienten anpassen können. Jeder dieser Schritte erfordert neben der Sachkenntnis auch Erfahrung.

Auch wenn sich neue Studien darum bemühen, ihre Ergebnisse praxisnah zu formulieren, kann es harte Arbeit sein, die klinische Bedeutung in den Alltag zu retten. Studien liefern Wahrscheinlichkeiten, keine Handlungsanweisungen. Diese Wahrscheinlichkeiten zu filtern und in nutzbare Information für den jeweiligen Patienten, der gerade vor einem sitzt, zu übersetzen, fordert Erfahrung- hier beginnt das, was oft als "ärztliche Kunst" beschrieben wird.

Chirurgen werden ebenfalls durch Erfahrung besser. Je häufiger ein bestimmter Eingriff gemacht wurde, umso seltener werden die Nebenwirkungen. Und auch in der Diagnose kann es helfen, schon viele unterschiedliche Fälle gesehen zu haben.

…und wo sie schaden kann

Dennoch gibt es Hinweise, dass Ärzte im Laufe ihres Berufslebens einen Punkt erreichen, wo sie eher schlechter als besser werden, weil sie Weiterentwicklungen der Medizin seltener annehmen als junge Ärzte. Wie der Aderlass lange genug gezeigt hat, kann die persönliche Erfahrung gerade dort täuschen, wo es darum geht, lange verwendete Therapieformen zu hinterfragen. In der Kognitionspsychologie bezeichnet man dies als Bestätigungstendenz – die Neigung von Menschen, vorwiegend Informationen wahrzunehmen, die die eigene Meinung bestätigen.

Damit Erfahrung zu objektiven Einschätzungen führt, ist es notwendig, dass bestimmte Schwellenwerte unserer Wahrnehmung überschritten werden. Ein Beispiel dazu: Es ist seit langem bekannt, dass Patienten, die nach einem Herzinfarkt in ihrem EKG auch Herzschläge außerhalb des normalen Rhythmus zeigen (sogenannte Extrasystolen), ein erhöhtes Risiko haben an lebensgefährlichen Rhythmusstörungen zu versterben.

Objektive Daten erheben

Es war daher naheliegend, diese Extraschläge mit Medikamenten zu unterdrücken, in der Annahme, dass dies das Risiko für diese lebensgefährlichen Rhythmusstörungen reduziert. Ärzte berichteten von guten Erfahrungen mit dieser Therapie. Eine große randomisierte Studie zeigte jedoch, dass die Medikamente in Wirklichkeit gefährlich waren: Patienten, die man mit antiarrhythmischen Medikamenten behandelte, starben signifikant häufiger als jene, bei denen man das nicht machte, nämlich 83 von 1.000 statt 35 von 1.000. Was war passiert? Warum lag die "gute Erfahrung" der Ärzte so falsch?

Die Erfahrung die Ärzte wurde getäuscht, weil der Unterschied in Todesfällen weit unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle liegt. Es ist grundsätzlich nicht überraschend, wenn nach einem Herzinfarkt jemand verstirbt, aber ob das 35 oder 83 pro tausend Patienten sind, ist in einer einzelnen Praxis oder einem Spital nicht zu merken.

Dazu braucht es objektive Daten, denn in Summe geht es um sehr viele Menschenleben. Wenn hier ein Arzt aufgrund seiner Erfahrungen entscheidet, statt aufgrund der Daten, ist die Gefahr hoch, dass er daneben liegt. Erfahrung ist in der Medizin extrem wichtig. Wir wissen inzwischen aber auch, dass Erfahrung alleine zu wenig ist. (Gerald Gartlehner, 6.11.2015)