Valerie Fritsch

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Foto: APA/Gert Eggenberger

Das Glück des karierten Uhus in gestreiften Pyjamas

Meine literarische Sozialisation begann mit den Vorlesestimmen meiner Eltern, der familiären Vertonung kleiner Welten, vollgestopft mit verrückten Persönlichkeiten und sprechenden Tieren, die – stets auf Krawall gebürstet – zu großen Abenteuern loszogen. Und wie sie lasen, meine Eltern, meine Mutter gab das doppelte Lottchen mit Inbrunst, mein Vater schien dem karierten Uhu selbst ähnlich zu sehen, wenn er aus dem Erwin-Moser-Bilderbuch deklamierte, obwohl er dabei paradoxerweise manches Mal einen gestreiften Pyjama trug. Ich war ein hingerissenes, hypnotisiertes Publikum, mit großen, konzentrierten Augen, mein Lieblingsstofftier fest im Griff, vor Aufregung auf den Ohren des gelben Hundes herumkauend, sodass man sie regelmäßig neu annähen musste, hatte ich sie hinabgebissen nach einer besonders dramatischen Geschichte. Applaus und Entzücken waren meinen Eltern gewiss und viele Folgeaufträge immer weiter und weiter zu lesen, noch mehr von den schnapstrinkenden Ratten, den Piraten und Katzenkönigen, den Wichteln und fünf Freunden, den fliegenden Lokomotiven und grauen Herren und musizierenden Grillen im Sonntagshemdchen, bis die Augen zu und die Bücher auseinanderzufallen drohten.

Dann kam endlich das Lesen. Das Bücherregal wurde Schatzkästchen und Apothekenschränkchen, das Medizin und Heilmittel für alle schlechten Tage und Gegenentwürfe zu jeder schlechten Welt barg. Es war ein Sammelsurium aus Universen und Kosmen en miniature, kodiert mit Buchstaben, eine andere Welt für jeden Tag. Hinter jedem Buchrücken eine Idee oder Antiidee von Rückgrat. In jedem Bändchen ein Sichtbarmachen, was es alles gab und was es alles geben konnte. Von vielem las ich zum ersten Mal. Nicht nur als Kind wuchs mir die Welt mit jedem Buch größer, auch heute lassen manche Werke den Horizont weiterrücken und füllen überraschend die weißen Flecken der inneren und äußeren Landkarten. Das Lesen wurde irgendwann zur Vorbereitung aufs Schreiben. Es war nicht aufzu halten, das Schreiben, es war eine Folgerichtigkeit, eine logische Konsequenz, nach allen Pixie- und Bilderbüchern, Sexheftchen, Schullektüren und Bänden der Elternbibliothek und meiner Begeisterung, was man mit den 26 Buchstaben des Alphabets alles anstellen kann. Und mit dem Schreiben kam auch das Vorlesen wieder, in neuer Rollenverteilung. Ich lese jetzt oft vor und gerne – das Publikum allerdings nagt in den seltensten Fällen an mitgebrachten Stofftieren zu ebendiesem Anlass.

Valerie Fritsch, geb. 1989 in Graz, liest am 12. 11. um 14.45 und 17.30 ("Winters Garten") auf der Buch Wien.

Arno Geiger

Foto: Heribert Corn

Gespräch zweier hinter mir sitzender Männer auf einer Lesung von Werner Kofler

A: Ich habe viel erlebt, ich bin weit in der Welt herumgekommen.

B: Ich war in dreißig Ländern.

A: Ich auch mindestens.

B: Als Musiker kommt man an ganz andere Orte als die Touristen. Ich habe von der Welt Dinge gesehen, die ein Tourist nicht sieht, andererseits habe ich das, was die Touristen sehen, nicht gesehen.

A: Dinge habe ich erlebt, man könnte mehr als nur ein Buch darüber schreiben.

B: Ich habe mehr als nur ein Buch darüber geschrieben. Ich habe bereits mehrere Skripten an Verlage geschickt, und die haben etwas daraus gemacht. Wenn man will, kann man sagen, dass ich beim Nobelpreis schon den zweiten Platz belegt habe. Meine Skripten sind nämlich immer zu kurz. Dreißig Seiten ist den Verlagen zu wenig. Das Problem ist, dass ich ein ehrlicher Autor bin, und wenn man zweihundert oder vierhundert Seiten schreiben will, dann muss man hier etwas einfügen und dort etwas aufblasen, und damit fängt die Sache an, unehrlich zu werden. Deshalb nehmen die Verlage meine dreißig Seiten und suchen sich jemanden, der sich bereitfindet, diese dreißig Seiten so weit aufzublasen, bis man sie als Bestseller verkaufen kann.

A: Ja, es ist schon so.

Arno Geiger, geb. 1968, lebt in Wien. Er liest am 12. 11. um 15.15 auf der ORF-Bühne aus "Selbstporträt mit Flusspferd".

Mieze Medusa

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Foto: APA/Hans Klaus Techt

Mach mir die Ohren rot!

Wie Sie wissen, macht Lesen süchtig. Wir Menschen können gar nicht anders, wir brauchen Erzählungen, die uns das Dunkel der Nacht erklären, Geschichten, die zu uns sprechen, die Sinn ergeben oder Unsinn, je nach Geschmack.

Wir wollen, dass erzählt wird, von uns und von anderen. Wir sehnen uns nach Geschichten, die unsere Ohren zum Glühen bringen, beim nächtlichen Lesen mit Taschenlampe unter der Bettdecke. Die schönste Seite des Erwachsenseins ist, dass mir niemand mehr verbieten kann, die Nacht zum Lesenachmittag zu machen. Die schönste Schattenseite des Erwachsenseins ist, dass ich am nächsten Tag selbst dafür verantwortlich bin, aus dem Federbett zu kommen.

Klar, ich hab' den Buchhandel auch schon klagen gehört. Mehr noch: Ich kenne meine Verkaufszahlen und die meines Freundeskreises. Und klar: Eventisierung des Betriebs, das Internet, der Import aus Deutschland, die Computerspiele, Facebook, die immer stärker aufklaffende Schere zwischen Bestseller und Restbeller.

Aber nicht: die Jugend von heute. Nicht: die Dummheit der Menschen. Kultur ist immer auch Wandel, Kultur ist immer auch kein Stillstand. Die Jugend liest, und wer sich jetzt darüber aufregt, dass es Vampir-Einhorn-Sci-Fi-Liebesschmonzetten oder Facebook-Statutsupdates sind, dem möchte ich die Frage stellen: Geht es darum, lesen zu lernen? Zu lernen, Texte zu verstehen, sich auf Texte zu konzentrieren? Oder geht es darum, dass Sie bestimmen wollen, was gute Literatur ist?

P-P-P-Poetry-Slam!

Apropos, gute Literatur? Einer ganzen Szene wird von gewissen VertreterInnen des Literaturbetriebs gerne mal der Vorwurf gemacht, keine Literatur zu produzieren, oder jedenfalls keine gute. Seit 15 Jahren arbeiten wir daran, Poetry-Slam in Österreich eine Basis zu schaffen. Endlich erreichen wir den äußeren Rand des Mainstreams, immer schon hatten wir ein treues und begeistertes Publikum. Warum? Weil wir mit ihm in Kommunikation treten.

Falls Sie noch nie von Poetry-Slam gehört haben: Es ist ein Wettlesen um die Gunst des Publikums, also um Ihre Gunst. Es geht um Sprache, es geht um Performance, wir lernen von der Literatur, vom Theater, vom Kabarett, von uns selbst und natürlich vom Publikum. Wie Sie wissen, macht Poetry-Slam süchtig. Uns, die wir von der Bühne gar nicht mehr loskommen wollen. Euch, die ihr mit uns lacht, kichert, nachdenkt, Gänsehaut habt und mitfiebert. Es gibt keinen schöneren Bühnenmoment als den, wenn ich euren Gesichtern ansehe, dass ihr euch gerade selbst vergessen habt. Ihr seid so tief in das Labyrinth aus Wörtern gefolgt, dass die Alltagsmaske, die wir alle mit uns rumtragen, abgefallen ist.

Mieze Medusa ist Pionierin der Poetry-Slam-Szene in Österreich. Sie liest am 11. 11. (21.00), am 12. 11. (17.00) und am 15. 11. (14.30) im Rahmen der Buch Wien.

Manfred Rebhandl

Foto: Heribert Corn

Lesen im Café Weidinger

Ich habe ein Talent, mir das Leben selbst ein bisschen schwer zu machen, und es soll welche geben, die es verkaufsstrategisch klüger anlegen als ich.

In mein neues Buch Töpfern auf Kreta habe ich eine Figur eingebaut, welche schlicht "die fette Buchhändlerin" heißt, zwar mit einem wunderbaren Gemüt ausgestattet, aber eben auch fett. "Die hat ja sogar für eine Buchhändlerin ein paar Kilo zu viel auf den Rippen!", heißt es da, obendrein hat sie ihr Haar mit Henna gefärbt und trägt Sackkleider in der Größe MS, also Marianne Sägebrecht. Ihre Buchhandlung heißt Clit Lit, dort verkauft sie einschlägige Literatur über "Weibliche Sexualität", aber auch Ratgeber zum Themenkreis "Soll ich meinen Zwölfjährigen abstillen?". Wer will, kann in meinem Buch sogar Angst vor ihr kriegen: "Ist vielleicht ganz gut, wenn du ein, zwei Tage aus der Stadt verschwindest. Sonst findet dich am Ende noch diese fette Buchhändlerin, und dann kann ich dir auch nicht mehr helfen."

Selbstverständlich gibt es für die "fette Buchhändlerin" keine Entsprechung in der Wirklichkeit, ebenso wenig wie für den impotenten Pornokinobesitzer Dirty Willi, über den es heißt: "Wir finden eine Lösung für deine Wurst, Willi, ganz sicher!" Oder für den Psychotherapeuten Kubelka, der sich in meinem Buch zum "weltweit ersten Zigeuner, der es zu etwas gebracht hat" wandelt. Pornokinobesitzer und Psychotherapeuten schaffen es noch, einen Schritt zurückzutreten und über sich selbst zu lachen. Sie empfangen mich weiterhin mit offenen Armen, insbesondere mein Therapeut freut sich immer, wenn ich komme. Jedoch ist es in letzter Zeit schwierig für mich geworden, Lesetermine in Buchhandlungen zu ergattern. Da war ich froh, als ich neulich in dem räudigen Gürtellokal Café Weidinger lesen durfte, im Rahmen der Kriminacht. Was soll dort schiefgehen?, dachte ich mir. Dort bin ich schließlich zu Hause, und die meisten Besucher würden besoffen sein, so wie Superstar Stefanie "Rotkäppchen" Sargnagel, die sich auch dort herumtreibt und sich bei Schnaps und Bier wahrscheinlich immer verzweifelter fragt, warum denn alle den Schwachsinn, den sie zusammenschreibt, gerade so geil finden.

Als ich dann aber das erste Mal "die fette Buchhändlerin" sagte, standen auf einen Schlag gleich fünf Damen von ihrem Tisch auf und verließen das Lokal. Ich konnte kaum weiterlesen, so sehr setzte mir das zu. Nachdem mir der Rest für meine Darbietung am Ende applaudiert hatte, alle besoffen, verriet mir ein Insider, das wären Angestellte der angrenzenden Hauptbücherei gewesen. Weiß der Teufel, wieso, die fühlten sich alle angesprochen, obwohl es doch Bibliothekarinnen sind und keine Buchhändlerinnen!

Manfred Rebhandl, geb. 1966, schreibt Drehbücher, Romane und Reportagen, u. a. für den STANDARD. Er liest auf der Buch Wien am 14. 11. um 16.30 aus seinem Roman "Töpfern auf Kreta" (FM4-Bühne).

Doris Knecht

Foto: Heribert Corn

Ein Zimmer für mich alleine

Philip Roth zum Beispiel. Der Mann, der den Literaturnobelpreis umso obsoleter macht, je länger er ihn nicht erhält, schreibt im Stehen, an einem vermutlich eigens für ihn geschreinerten Holzpult. Er tut das in seinem einsamen Haus in Connecticut: Links von sich blickt er durch ein Fenster in grüne Natur. Sein Rücken ist deshalb, obwohl er schon ein paar Jahre länger auf der Welt ist, besser beieinander als meiner, welcher auch augenblicklich wieder in schlechter Haltung in einen ungeeigneten Sessel gestopft wurde, aus dem Grund, dass etwas Derartiges wie ein ästhetisch auch nur erträglicher und leistbarer Schreibtischsessel nie erfunden wurde. Okay, das ist ein anderes Thema. Obwohl: Vielleicht ist auch das der Grund, wieso Roth im Stehen schreibt. Oder besser: schrieb; er hat ja jetzt damit aufgehört. Er tat es allerdings bis zuletzt in äußerster Ruhe. Er lebte seit Jahren allein, sein Leben lang blieb er von eigenen Kindern ungestört und ist es somit jetzt auch von Enkeln. So sehr man als jemand, der Kinder hat, stillheimlich alle bedauert, die keine haben, so fanatisch beneidet man sie um die Ruhe und die Ungestörtheit, mit der infolgedessen ihr Schreiben verbunden ist.

Homeoffice am Küchentisch

Eindreiviertel Romane verfasste ich mangels betürtem Homeoffice am Küchentisch, in einem dafür ungeeigneten Sessel, mit einem Kopfhörer auf den Ohren, aus dem häufig kein Ton drang, der allerdings signalisierte: Dieses Familienmitglied arbeitet und soll dabei nur im Notfall gestört werden. Selten wurde dieses Signal respektiert, weshalb ich mich für das Finale des zweiten Romans im stillen Atelier von Freunden einmietete und dort drei Wochen lang so effizient arbeitete, dass es davon praktisch kein Zurück gab. Vor dem dritten Buch richtete ich mir eine eigene kleine Schreibwerkstatt ein, mit Schreibtisch und rasend unbequemem 1960er-Jahre-Designersessel: ohrenschonend und augenberuhigend in einen stillen, bewachsenen Innenhof hinein gelegen, in dem nur bisweilen eine Katze von Kamin zu Kamin wanderte.

Ich hängte eine Postkarte an die Wand mit dem Buchcover von Virginia Woolfs A Room auf One's Own. Kein Familienmitglied bekam einen Schlüssel für diesen Raum oder die Erlaubnis, dort je zu klingeln. Ich begann zu schreiben und schrieb in der herrlichen Ruhe und Ungestörtheit dieses verborgenen Ortes nicht eine Zeile mehr, leichter oder lieber als davor am Küchentisch. Es war alles genauso schwierig, quälend und anstrengend wie zuvor, bloß konnte ich niemand anderem die Schuld dafür geben. Die Schreibwerkstatt ist längst untervermietet. Ich schreibe wieder am Küchentisch. Geht eh.

Doris Knecht hat bislang drei Romane geschrieben: "Gruber geht" (2011), "Besser" (2013) und "Wald" (2015), alle bei Rowohlt Berlin. Sie schreibt Kolumnen für "Falter" und "Kurier".

Thomas Sautner

Foto: Urban

Der Sinn des Lesens/Lebens

Schreiben und lesen. Warum eigentlich? Der wunderbare Romancier Joseph Roth beantwortete die Frage auf unvergleichliche Art: "Niemand muss schreiben, ich würde auch nicht schreiben, wäre ich nicht so unwissend, so schrecklich unwissend." Wer Roth auch nur ein wenig kennt, weiß, seine Antwort ist nicht nur beißend selbstironisch, sondern auch offenherzig.

Tatsächlich überfällt jene, die gewiss nicht zu den Dummen zählen, allzu oft das Gefühl, schrecklich unwissend zu sein und unvorbereitet fürs Leben. Nur wer das zweifelhafte Glück hat, nie ins Grübeln, Fluchen, Weinen zu geraten, nur wer die Welt und sich selbst ein- statt vielfältig zu sehen vermag, hat es nicht notwendig, zu schreiben, zu lesen.

Wir anderen sind geradezu gezwungen, uns das Glück anzutun – zu Romanen zu greifen; sind genötigt, uns Satz für Satz das Leben zu erklären, hineinzufallen in jenen Kosmos, dessen Weite und Tiefe wir schaudernd ahnen und dessen zerbrechliche Schönheit wir sacht zu berühren suchen, Tag für Tag, Zeile um Zeile.

"Jeder Leser", sagte Marcel Proust, "ist beim Lesen ein Leser seiner selbst." Das Werk des Schriftstellers sei nur eine Art Instrument, das er dem Leser anbiete, "um ihm zu ermöglichen, das zu erkennen, was er ohne dieses Buch vielleicht nicht in sich selbst gesehen hätte". Das klingt schlau und mag sogar seine Richtigkeit haben, weil es aber auch etwas oberschlau ist, wollen wir Stefan Zweig Entscheidendes ergänzen lassen: Die beste Möglichkeit, "etwas mir selbst Unerklärbares für mich zu erklären", verriet der Autor von Die Sternstunden der Menschheit, bestand darin, "es für andere zu gestalten und darzustellen".

Dass Handlung und Sinn eines Romans von den meisten Lesern sogleich vergessen werden, wie Milan Kundera mutmaßt, weil Leser Romane "ebenso unaufmerksam und schlecht lesen, wie sie ihr eigenes Leben lesen", tut dem Genuss des Lesens im Übrigen keinen Abbruch. Zweck des Lesens ist schließlich nicht, dass Leser den Autor richtig zu interpretieren wissen (im Grunde ist der Autor unwichtig), sondern vielmehr, dass der Roman (nur er ist wichtig) bei ihnen ästhetischen Genuss und Geistesblitze bewirkt. So gesehen ist es kein Problem, sondern im Gegenteil amüsant, dass das sinnstiftende Verhältnis zwischen Gelesenem und Geschriebenem, wie Rainer Maria Rilke wusste, mitunter auf "glücklichen Missverständnissen" basiert. Was Literatur uns schenkt, ist die Gelegenheit, nach und nach zu begreifen, was es heißt und heißen kann, Mensch zu sein. Mittels Literatur heben wir uns über unsere Banalität hinweg. Literatur lässt uns unser Höchstes sehen. Und wenn sie uns unser Tiefstes sehen lässt, rettet sie uns davor, für diesen Augenblick.

Thomas Sautner, geb. 1970, ist Schriftsteller und Essayist. Er liest im Rahmen der Buch Wien am 14. 11. um 16.30 (ORF-Bühne) aus "Die Älteste".

Satu Taskinen

Foto: Pollheimer

Wie ich lese, so bin ich

Man sagt: schwarz auf weiß. Es steht hier schwarz auf weiß. Jeder kann es lesen. Schau, hier doch! Ja. Aber was? Was heißt lesen? Die Sprache hat die Menschen getrennt. Und dann wieder vereint. Wieder so ein Werkzeug, das beides kann: zerstören und bauen. Reparieren und kaputtmachen. Ein Werkzeug, dessen Benützung gelernt wer- den soll.

Denn: Buchstaben sind eine Brücke zwischen den Hirnen und Herzen von isolierten Menschen. Und doch: was für eine Ungerechtigkeit, das Lesen. Was für eine Ungerechtigkeit ist jede Interpretation, jede Übersetzung, jedes vermeintliche Verstehen. In-der-Welt-Leben besteht zum Großteil vom Lesen der Welt. Lesen vom Kaffeesatz ... von den Sternen ... von den Gesich-tern ... Von welchen anderen Texten?

Lesestoff ist Gewebe. Lesen heißt: Ich sehe die Welt, vielleicht etwas von der Wirklichkeit. Oder: Ich reime mir alles so zusammen, wie es mir gerade passt. Die arme Leserin, was sonst könnte sie tun? Ein Blick in den Spiegel zeigt: Die Leserin schreibt den Text neu. Ja, das tut sie, ob sie es will oder nicht. Und er auch.

"Ich verstehe nicht"

Wer wissen will, wie schwer, ja was für ein Wunder Lesen ist, teste das eigene Können an Nabokovs Das fahle Feuer und staune.

Der Mensch sagt eine Sache und macht eine andere. Ohne zu merken, dass etwas vielleicht nicht stimmt. Er lebt in und von Missverständnissen. Er lebt in seinem Weltbild, das nur seins ist, seinem Überleben gerade am besten dient. Von diesem Blickwinkel aus betrachtet ist jedes Weltbild immer richtig. Von diesem einen kurzsichtigen Überlebensblickwinkel. Kann sein: die, die am weitesten über den eigenen Tellerrand schauen und sehen können oder wollen, bleiben nicht sehr lange im Wettbewerb. Werden nicht reich. Schauen nicht aus wie Gewinner. Werden nicht gehört.

Der Mensch weiß nicht viel. Er versteht seine Größe nicht. Wie klein er nämlich ist. Wie sehr viel mehr er entspannen könnte. Schauen. Verwundert sein. Bewundern. Fragen. Warum lesen? Warum schreiben? Warum vorlesen? Weil die Aufgabe der Menschen ist: versuchen herauszufinden, wer wir sind.

"Ich verstehe nicht" ist ein guter Anfang, wenn man liest. Der Beste. Wie so oft erkennt das Kind das Richtige, wenn es fragt und sagt: Ich verstehe nicht und weitersucht. Der Rest ist Erfindung, Glaube, Irrglaube.

Satu Taskinen, geb. 1970 in Helsinki, lebt seit 1990 in Wien. Sie liest im Literaturcafé der Buch Wien am 12. 11. um 15.30 aus ihrem neuen Roman "Die Kathedrale".

(Album, 7.11.2015)