Wien – Lange galt Brasilien als Musterschüler bei der Bekämpfung der Armut. Das hochgelobte Sozialprogramm "Bolsa Família" erreicht etwa über zehn Millionen Familien, die gegen strikte Auflagen wie den Schulbesuch der Kinder oder verpflichtende Impfungen jeden Monat einen Scheck von den Behörden erhalten. Gleichzeitig ist in den 2000ern die Wirtschaft stark gewachsen, die Arbeitslosigkeit war niedrig und die Einkommen der Ärmsten sind doppelt so schnell gestiegen wie im Bevölkerungsschnitt. Eine kleine Mittelklasse entstand, die Armutsquote sank von über 20 auf unter zehn Prozent. Präsident Lula, von 2002 bis 2010 im Amt, wurde gefeiert.
Wenige Jahre später hat sich die Situation ins Gegenteil verkehrt. Das Land steckt in einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise. Geht es nach Monica de Bolle, dann könnte Brasilien den Großteil der sozialen Errungenschaften der Lula-Regierung in den nächsten ein, zwei Jahren wieder verspielen. Doch wie konnte es so weit kommen?
Ende der Bonanza
"Die Wahrheit ist", sagt die brasilianische Ökonomin, die unter anderem am Peterson Institute in Washington forscht, "dass wir uns in der Vergangenheit nicht so gut entwickelt haben, wie viele denken." Zwar seien die Sozialprogramme der Regierung ausgeklügelt, doch langfristig könne man das nur durch eine starke Wirtschaft, die Geld in die Staatskassen spült, finanzieren. Und da fängt das Problem an: Das Land, dessen Wirtschaftsleistung vor einigen Jahren noch um fünf bis sechs Prozent gewachsen ist, soll heuer um drei Prozent schrumpfen. Auch nächstes Jahr wird es wohl in der Rezession bleiben, meinen Analysten. Die Arbeitslosigkeit ist innerhalb eines Jahres von unter fünf auf derzeit 8,6 Prozent geklettert und wird wohl weitersteigen.
Das Wachstum sei früher massiv aufgebläht gewesen, sagt De Bolle. "Die Regierung hat zu viel Geld ausgegeben und gleichzeitig über die Staatsbanken einen Kreditboom angefacht." Unterstützt wurde das Ganze durch hohe Rohstoffpreise. Brasilien exportiert vor allem Rohmaterialien wie Eisenerz, Sojabohnen, Öl und Zucker. Größter Abnehmer ist China, der wichtigste Handelspartner des Landes. Seit 2013 sind die Preise für brasilianische Exportgüter aber massiv eingebrochen. Die niedrigen Zinsen in Europa und den USA haben außerdem zu einem Milliardenzufluss an Kapital geführt. "Das hat den Boom weiter angefacht", sagt De Bolle. Jetzt fließe das Geld langsam wieder ab.
"Das erklärt aber noch nicht die ganze Misere", sagt Marcos Troyjo, Ökonom an der Columbia University. Denn Brasilien wird auch von einem massiven Korruptionsskandal rund um den staatlichen Ölkonzern Petrobras erschüttert. "Viele hohe Politiker und große Unternehmen sind darin verwickelt", sagt er. Das führe derzeit zu enormer Unsicherheit, was das Wachstum weiter drücke. Jetzt räche es sich auch, dass Brasilien von seiner von Ökonomen lange gelobten Wirtschaftspolitik abgewichen sei. "Wir haben uns darauf konzentriert, die Inflation niedrig zu halten und den freien Markt walten zu lassen", sagt Troyjo.
Lange nicht bemerkt
Der Wirtschaftsboom habe die Regierung dazu verführt, diese altbewährten Tugenden zu vernachlässigen. So seien etwa Preise im Energiesektor und Profite von Unternehmen reguliert worden. Das sieht De Bolle ähnlich: "Seit 2006 hat sich die Wirtschaftspolitik schleichend zum Schlechten gewandelt." Das sei lange unbemerkt geblieben, weil die hohen Rohstoffpreise und die Nachfrage aus China die Probleme überdeckten. Jetzt komme alles zum Vorschein, sagt De Bolle. Brasilien hatte in den frühen 1990er-Jahren noch mit einer Hyperinflation zu kämpfen. Lange war es einer der wichtigsten Eckpfeiler der Politik, die Teuerung im Zaun zu halten. "2011 war die Inflation etwa bei 7,5 Prozent, was viel zu hoch ist. Die Zentralbank hat trotzdem die Zinsen gesenkt, um die Wirtschaft anzukurbeln", so die Ökonomin. Mittlerweile ist die Inflation bei 9,9 Prozent, was auch an der starken Abwertung des Real liegt.
Mittlerweile hat die Zentralbank die Leitzinsen auf über 14 Prozent erhöht. Präsidentin Dilma Rousseff hat einen Sparkurs eingeleitet, um die steigenden Staatsschulden zu bekämpfen. Das ist aber Gift für die ohnehin schwache Konjunktur. "Jetzt müssen wir unsere Probleme angehen, auch wenn es wehtut", sagt De Bolle. "Das wird aber viele Jahre dauern." Die hohe Inflation und die steigende Arbeitslosigkeit treffe indessen vor allem die Ärmsten der Armen. (Andreas Sator, 8.11.2015)