Die Disziplin erinnert etwas an die "Kremlogie" aus der Zeit des Kalten Krieges. Galt es einst, anhand von vagen Gesten und Andeutungen den Willen der Herrscher der Sowjetunion in Moskau zu deuten, so ist heute interpretatives Geschick gefragt, wenn es um die Absichten von Erwin Pröll geht. Seit Jahren schon werden dem niederösterreichischen Landeshauptmann Ambitionen nachgesagt, für das Amt des Bundespräsidenten kandidieren zu wollen – in der ÖVP gilt er jedenfalls als potenzieller Anwärter.

Jüngste Hinweise deuten eher auf ein Antreten hin: ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner lobte Pröll in einem Kurier-Interview als guten Kandidaten – was hätte er auch anderes auf eine Journalistenfrage antworten sollen, ohne sich den vielleicht mächtigsten Politiker seiner Partei zum Feind zu machen. Aber dass Pröll einen Tag später jene Führungsstärke, die Mitterlehner an ihm würdigte, von Kanzler Werner Faymann einforderte, wirkte dann doch wie der erste Baustein einer Imagekampagne.

Pröll zaudert möglicherweise, weil er viel zu verlieren hat: ein Image als ewiger Gewinner und ein Bundesland, in dem er so unbehelligt lenken kann wie kein anderer Regent in Österreich. Er wird deshalb wohl nur antreten, wenn ein Sieg absehbar ist. Doch der scheint keinesfalls sicher: Irmgard Griss und Alexander Van der Bellen liegen in Umfragen besser. Ein Platzhirsch muss vermeintliche Außenseiter fürchten – etwas Besseres kann einer Demokratie kaum passieren. (Gerald John, 8.11.2015)