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Nachdem der EuGH die sogenannte Präklusion gekippt hat, könnte die Genehmigung von umstrittenen Großprojekten, wie etwa des Salzachkraftwerks Lehen in der Stadt Salzburg, noch länger dauern.

APA/Gindl

Wien – Mit einer aufsehenerregenden Entscheidung (15. 10. 2015, C-137/14) hat der Europäische Gerichtshof neue Regeln für die Genehmigung von Großprojekten geschaffen. Projektgegner werden künftig bis zum Schluss mitreden können, selbst wenn sie gesetzliche Einspruchsfristen versäumt haben.

Unternehmer, die um eine Genehmigung z. B. für eine Industrie- oder Energieerzeugungsanlage angesucht haben, müssen hingegen selbst nach erfolgreicher mündlicher Verhandlung ihres Projekts weiterbangen, ob nicht doch noch überraschend Einwendungen gegen die Umsetzung des Vorhabens erhoben werden.

Das Verfahren zur Genehmigung von Projekten, die einer Umweltverträglichkeitsprüfung bedürfen oder zumindest dem EU-Regime für größere Industrie- und Energieanlagen unterliegen, war in Österreich bisher fein ausbalanciert. Die Vorhaben waren zunächst der Öffentlichkeit vorzustellen. Interessierte Bürger konnten bei der zuständigen Genehmigungsbehörde die Projektunterlagen einsehen und sich dazu äußern. Wollten sie sich gegen die Genehmigung des Projekts aussprechen, mussten sie bisher gesetzliche Fristen einhalten.

Der Sinn dieser sogenannten Präklusion liegt auf der Hand: Soll z. B. eine Abfallbehandlungsanlage genehmigt werden, gegen welche sich möglicherweise hunderte Menschen aussprechen, soll nach Ablauf der gesetzlichen Einwendungsfrist klar sein, wie viele und welche Projektgegner aufgrund ihrer rechtzeitig erhobenen Einwendungen am Verfahren mit allen Rechten zu beteiligen sind. Damit sollen die Grundsätze einer ausreichenden Öffentlichkeitsbeteiligung und gerichtlichen Kontrolle einerseits und der Durchführung effizienter und kostensparender Verwaltungsverfahren andererseits fair gegeneinander abgewogen werden.

EU-Klage gegen Deutschland

Genau damit ist nun Schluss. Anlässlich einer Klage der EU-Kommission gegen Deutschland, das ähnliche Verfahrensregeln wie Österreich kennt, hat der EuGH festgehalten, dass die "betroffene Öffentlichkeit" ihre Vorbehalte gegen die Genehmigung eines Projekts ohne Bindung an gesetzliche Fristen geltend machen kann.

Dieses Urteil stellt das gesamte österreichische Umwelt- und Verwaltungsverfahrensrecht auf den Kopf. Die durch die Richter geschaffenen erweiterten Einspruchsrechte stehen nicht nur einzelnen Projektgegnern, sondern auch Umweltorganisationen, möglicherweise auch Bürgerinitiativen zur Verfügung. Die per Gesetz bestellten Landesumweltanwälte werden hingegen nicht als zu schützende "betroffene Öffentlichkeit" anzusehen sein.

Neben Umweltverträglichkeitsprüfungsverfahren, die bereits mit einem kaum stemmbaren Ballast an Sonderregelungen beschwert sind, sind auch all jene Industrie- und Energieanlagen betroffen, die der EU-Industrieemissionsrichtlinie unterliegen. Neben neuen Projekten werden auch Verfahren erfasst sein, bei denen es lediglich um Änderungen bestehender Anlagen geht, die mit erheblich nachteiligen Auswirkungen auf die Umwelt verbunden sein können.

Ausnahmezustand

Da das EU-Recht nationale Regelungen überlagern und verdrängen kann, wird das neue Regime ohne Übergangsfristen ab sofort gelten. Das bedeutet für laufende Genehmigungsverfahren, dass die Karten neu gemischt werden. Konnte man sich in der mündlichen Genehmigungsverhandlung mit den Nachbarn einigen oder sind diese mangels Interesse gar nicht erschienen, kann dem betroffenen Unternehmen noch ein dickes Ende bevorstehen.

Selbst knapp vor Bescheiderlassung vorgebrachte Bedenken sind von der Behörde einer Prüfung zu unterziehen. Auch vor den Verwaltungsgerichten wird es möglich sein, ergänzende Argumente "nachzuschieben". Dafür werden aber nicht selten wieder Sachverständige zu beauftragen sein, womit sich die Spirale der Verfahrenskosten und -dauer immer schneller zu drehen beginnt.

Es darf mit Spannung erwartet werden, wie der österreichische Gesetzgeber auf diesen Ausnahmezustand reagiert. Ein eigenes Verfahrensrecht für die Genehmigung von Großprojekten steht im Raum. Bis dahin müssen sich Behörden und Unternehmen mit einem Richterspruch auseinandersetzen, der viele Fragen offenlässt. Abhilfe könnte das bislang nicht genutzte Instrument schaffen, wie im Zivilprozess nach einem ausreichenden Ermittlungsverfahren den "Schluss des Beweisverfahrens" zu verkünden.

Der Gerichtshof will außerdem ein missbräuchliches oder unredliches Vorbringen – z. B. Einwendungen, die Projektgegner mit Verzögerungsabsicht verspätet vorbringen – nicht zulassen. Neben einer nun deutlich gestärkten "betroffenen Öffentlichkeit" lässt er damit jedenfalls auch "betroffene Behörden" und "betroffene Unternehmer" zurück. (Martin Niederhuber, 9.11.2015)