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Richard McLaren, Richard Pound und Günter Younger verkünden die unangenehme Botschaft in Genf.

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Griss um den Bericht der Wada-Sonderkommission.

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Will rasch tätig werden: IAAF-Präsident Sebastian Coe.

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Die 800-m-Goldmedaillengewinnerin Marina Sawinowa hätte in London nicht an den Start gehen dürfen. Die unabhängige Kommission befürwortet in ihrem Bericht eine lebenslange Sperre wegen Dopings.

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Berlin – Die Doping- und Betrugsaffäre in der russischen Leichtathletik weitet sich zu einem der größten Skandale der Sportgeschichte aus und könnte weltweit drastische Folgen haben. Die Forderung einer unabhängigen Untersuchungskommission der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada), den Russischen Leichtathletikverband (Araf) wegen Nichteinhaltung des Anti-Doping-Codes aus dem Weltverband IAAF auszuschließen, stellt den Sport auf seinen höchsten Ebenen vor eine Zerreißprobe.

IAAF-Präsident Sebastian Coe kündigte an, im Vorstand des Verbands darauf zu drängen, rasch Sanktionen gegen Russland zu prüfen. Die Erkenntnisse der Wada-Kommission nannte Coe "alarmierend". Man werde alles Nötige unternehmen, um die sauberen Athleten zu schützen und das Vertrauen in die Leichtathletik wiederherzustellen. Coe setzte den Russen eine Frist bis zum Wochenende, um auf die Vorwürfe zu reagieren.

Die Wada-Kommission war eingesetzt worden, um die im Dezember 2014 in einer ARD-Dokumentation erhobenen Vorwürfe über Doping im russischen Spitzensport zu untersuchen. Ermittlungsergebnisse im Bezug auf Verwicklungen des unter Korruptionsverdacht stehendenden Ex-IAAF-Chefs Lamine Diack wurde aus Rücksicht auf laufende Ermittlungen der Strafvollzugsbehörden nicht bekanntgegeben.

Die weltweite Untersuchung zu Korruption und Doping in der Leichtathletik wird von Interpol koordiniert, geleitet werden die Ermittlungen von der französischen Polizei.

Russland hat die Forderung nach drakonischen Strafen als politisch motiviert zurückgewiesen. Zugleich betonte Sportminister Witali Mutko, dass die Wada zwar Empfehlungen aussprechen, aber niemanden von Wettbewerben ausschließen könne. "Ja, wir haben Probleme, aber wir haben sie auch nie verschwiegen", sagte Mutko auf die Frage nach Doping im russischen Sport und zeigte sich bereit, auf Vorschläge von außen zu reagieren. "Wenn die Wada oder die IAAF Empfehlungen aussprechen, werden wir diese natürlich befolgen."

Befürchtungen übertroffen

"Es ist schlimmer, als wir dachten", sagte der Kommissionsvorsitzende Richard Pound am Montag. Der ehemalige Wada-Präsident und IOC-Vize sprach von "staatlich gestütztem Doping" und empfahl im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2016 in Rio ausdrücklich, dass der russische Leichtathletikverband suspendiert wird. "Ich hoffe, sie haben verstanden, dass es Zeit ist zu handeln." Das systematische Doping werde offenbar von höchsten Stellen der russischen Regierung gedeckt, so Pound. "Ich glaube nicht, dass es irgendeine andere mögliche Schlussfolgerung gibt."

Sollte die Wada das Maßnahmenpaket der Kommission übernehmen und offiziell an die IAAF und das Internationale Olympische Komitee weiterreichen, läge ein einzigartiger Vorgang in der Geschichte des Sports in der Luft: der Ausschluss eines gesamten Landesverbands von internationalen Wettbewerben wie Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen.

Systematische Dopingkultur

Unabhängig vom Fortgang der Dinge setzt der Befund der Kommission die Wada, die IAAF und das Internationale Olympische Komitee enorm unter Druck. Denn die Untersuchungsergebnisse übertrafen die schlimmsten Befürchtungen und lassen den großen Organisationen wenig Spielraum für harmlose Sanktionen.

Systematische Dopingkultur im russischen Sport, ein Korruptionsgeflecht mit der IAAF-Spitze und sogar das Mitwirken des russischen Geheimdiensts FSB: Die Wada-Kommission sieht es als erwiesen an, dass in der russischen Leichtathletik eine "tiefverwurzelte Betrugskultur" geherrscht hat. Zudem bestätigt der Bericht Korruption und Bestechung auf höchster Ebene der IAAF.

"Dieser Skandal ist für die Leichtathletik noch viel schlimmer als der Fall Ben Johnson", sagt Helmut Digel, Ehrenpräsident des Deutschen Leichtathletikverbands und langjähriges Council-Mitglied der IAAF. Er begrüßt die Forderung eines Ausschlusses. "Es muss ein Ausschluss auf Zeit möglich sein, auch wenn das wehtut und saubere Athleten bestraft würden", sagt Digel. "Wenn ein Verband nachweislich Teil des Betrugssystems ist und gegen alle bestehenden Verträge verstößt, darf das kein Tabu sein."

Drahtzieher bei der IAAF soll der langjährige Präsident Diack sein. Gegen den 82-jährigen Senegalesen und weitere Beschuldigte, darunter zwei seiner Söhne, wurde in der vergangenen Woche in Frankreich wegen des Verdachts der Korruption und Bestechlichkeit ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Kommission hatte den Ermittlern entsprechende Hinweise gegeben. Die Beschuldigten sollen gegen Zahlung von mehr als einer Million Euro positive Dopingproben vertuscht haben.

Mafia-Methoden

"Die unabhängige Kommission hat systematische Fehler innerhalb der IAAF und in Russland identifiziert, die die Möglichkeit eines effektiven Anti-Doping-Kampfes verringern", heißt es in dem Bericht. "Das geht bis zu dem Punkt, dass weder die Araf noch die russische Anti-Doping-Agentur (Rusada) oder die Russische Föderation als regelkonform mit dem Wada-Code angesehen werden können."

Auf 320 Seiten zerstört der Bericht der Kommission jeden Rest an Glaubwürdigkeit des russischen Sports und der Arbeit der IAAF. Und er enthüllte Mafia-Methoden, die die Sportwelt bis ins Mark erschüttern. Schließlich offenbart der Bericht selbst im Vergleich zur Krise im Fußball-Weltverband Fifa eine neue Dimension.

Erstmals wurde nachgewiesen, dass ein Weltverband durch die Vertuschung positiver Dopingproben selbst dafür sorgte, dass die Ergebnisse internationaler Wettbewerbe verfälscht wurden. So hätte unter anderen die spätere 800-m-Goldmedaillengewinnerin Marina Sawinowa nicht in London an den Start gehen dürfen. Die unabhängige Kommission befürwortet in ihrem Bericht eine lebenslange Sperre wegen Dopings. Insgesamt fordert die Kommission Sanktionen für fünf Sportler, vier Trainer und einen Arzt sowie Nachuntersuchung in zahlreichen weiteren Fällen.

Heftig beschuldigt werden auch das Moskauer Anti-Doping-Labor und dessen Chef Gregori Rodschenkow. Nach Angaben der Kommission ist das Labor nicht in der Lage, eigenständig zu handeln, Ärzte und Laborpersonal hätten den Betrug ermöglicht. Zudem seien "mut- und böswillig" mehr als 1.400 Proben zerstört worden, nachdem die Wada Zielkontrollen angeordnet hatte. Dem Labor soll die Akkreditierung entzogen und Rodschenkow dauerhaft von seinem Posten entfernt werden.

Druck zur Umsetzung

Beteiligt an den Vorgängen sei sogar der russische Geheimdienst FSB. Dieser habe während der Olympischen Winterspiele in Sotschi das Labor überwacht und in wöchentlichen Treffen nach Angaben eines Informanten sogar Material über die Wada gesammelt.

Spannend wird nun die Frage sein, wie die verantwortlichen Stellen bei der Wada, der IAAF und dem IOC den dutzende Seiten umfassenden Maßnahmenkatalog umsetzen. Der auf ihnen lastende Druck könnte kaum größer sein. Das IOC wird in dem Bericht ausdrücklich aufgefordert, keine Teilnahme russischer Athleten zuzulassen, bis der Verband als regelkonform mit dem Wada-Code eingestuft wird.

"Es kann keine Antwort sein zu sagen, dass die Leichtathletik, die IAAF oder Russland zu wichtig seien, um sanktioniert zu werden", heißt es in dem Bericht. Die Wada muss die Forderungen der Kommission noch offiziell bestätigen und an die zuständigen Organisationen weiterleiten. Und auch an die Wada richteten die Verfasser die eindringliche Forderung, "alle Maßnahmen des Berichts umzusetzen". (sid, red, 9.11.2015)

Die wichtigsten Ergebnisse der Kommission:

1. Tiefverwurzelte Betrugskultur

"Die Untersuchung zeigt, dass die Akzeptanz von Betrug auf allen Ebenen und seit langem verbreitet ist", heißt es in dem Bericht. Eine mangelhafte Einstellung gegenüber Anti-Doping-Anstrengungen sei "tief in der russischen Leichtathletik verwurzelt". Gerechtfertigt werde das mit der Annahme, dass alle anderen auch betrügen würden.

2. Ausbeutung von Athleten

Unethisches Verhalten sei zur Norm geworden. Die Ausbeutung von Athleten für Medaillen und finanziellen Erfolg sei in der russischen Leichtathletik weit verbreitet. Die Athleten seien oft willige Teilnehmer gewesen, allerdings gebe es auch dokumentierte Fälle, in denen Athleten, die nicht Teil des Programms werden wollten, nicht für die russische Nationalmannschaft nominiert wurden.

3. Betrug durch Athleten

Der Bericht zeigt, dass es systematischen Dopingbetrug bei russischen Athleten gegeben hat. Darüber hinaus stellt er fest, dass es ein hoher Prozentsatz der Athleten nicht mit der Komission zusammenarbeiten wollte. Viele Athleten gaben darüber hinaus unzureichend Auskunft über ihren Aufenthaltsort.

4. Beteiligung von Ärzten, Trainern und Laborpersonal an Dopingbetrug:

Der Bericht bestätigt, dass einige russische Ärzte und Laborpersonal in Zusammenarbeit mit Trainern systematischen Betrug ermöglicht haben. Im Moskauer Anti-Doping-Labor sollen mut- und böswillig mehr als 1.400 Proben zerstört worden sein, nachdem die Wada Zielkontrollen angeordnet hatte. Zudem wurden Teststandards nicht eingehalten.

5. Korruption und Bestechung innerhalb der IAAF

Der Bericht bestätigt Korruption und Bestechung auf der höchsten Ebene der internationalen Leichtathletik. Die Beweise dafür seien an Interpol übermittelt worden, die Veröffentlichung soll bis zum Ende des Jahres geschehen. Zunächst sollen die Entscheidungen der Untersuchungsbehörden abgewartet werden.

Die wichtigsten Empfehlungen der Kommission:

1. Ausschluss des russischen Leichtathletikverbands aus dem Weltverband.

2. Schnellstmöglicher Entzug der Akkreditierung des Moskauer Anti-Doping-Labors und "permante" Absetzung des Direktors Gregori Rodschenkow. Das Labor sei nicht in der Lage, unabhängig zu handeln.

3. Empfehlung der Wada an das IOC, keine Teilnahme russischer Leichtathleten an internationalen Wettbewerben zuzulassen, bis die Araf als regelkonform mit dem Wada-Code bezeichnet werden kann.

4. Lebenslanger Ausschluss russischer Sportfunktionäre, die an dem systematischen Betrug beteiligt waren, darunter auch Sergej Portugalow, Chef der Arafa-Medizinkommission.

Bericht der Wada-Kommission zum Download

Kommentar: Primat der Politik