Sebastian Kurz ist ein kluger Mann, und er weiß wohl, dass sein österreichischer "Wertekatalog" stark nach Symbolpolitik riecht. Das sei ihm nicht vorgehalten, denn Symbolpolitik ist eben auch Politik – in ihrer Wirkung genauso unberechenbar wie ein reales Handeln. Und schließlich ist der Katalog eine kluge persönliche Schutzmaßnahme: Heute intendiert er eine beruhigende Wirkung auf besorgte Bürgerinnen und Bürger, die soziale Konflikte befürchten; sollte das größte Experiment der europäischen Moderne kläglich scheitern, wird ihm in dreißig Jahren keiner nachsagen können, er hätte nicht versucht, gegenzusteuern.
Allerdings: Das "branding" spielt bei solchen Projekten eine große Rolle, man sollte sich bei der Namensgebung doch ein wenig Gedanken machen – über den allgemeinen Sprachgebrauch und über die Assoziationen, die ein Name auslösen kann. Und hier passt die Titelung nicht zum Normen suggerierenden Charakter. Als Beleg für diese Behauptung sei das größte Dokument unserer Umgangssprache, nämlich Google, herangezogen. Wer "Katalog" in die Suchfunktion eingibt, landet zunächst bei "Neckermann" und dann bei "Ikea". Die meisten Kataloge sind regelmäßig publizierte, mit bunten Bildchen ausgestattete Drucksorten, von denen der Vertreiber hofft, dass er damit unser Begehren nach den angebotenen Gegenständen erwecken kann, sodass wir einige davon erwerben – die Erfolgsquote dieser Werbestrategie liegt wohl unterhalb des Promillebereichs, und die Zahl der ungeöffnet im Müll landenden Kataloge ist wohl zweistellig. Mit Katalogen, die man bei Kunstausstellungen erwirbt, geht man ob ihres Preises pfleglicher um – aber auch sie haben keinerlei Verbindlichkeit.
Gehen wir zu den Werten: Da schickt uns Google auf Wikipedia, wo zunächst einmal von Wertvorstellungen gesprochen wird. Das Wort "Werte" gilt als Verkürzung, die bestimmten Konstellationen "beigelegt" wird. Werte haben also eine subjektive Quelle – erst das aus Wertvorstellungen einer Gesellschaft geformte Gesamtgebilde nennt Wikipedia ein Wertesystem oder eine Wertordnung. Ist es das, was Kurz meint? Aber auch bei der Wertordnung ist der Verbindlichkeitsgrad gering: Enthält sie einen alleinigen Anspruch auf Wahrheit, dann schmäht Wikipedia sie als eine Ideologie. In einer Situation wie der heutigen steht die "Wertordnung" in Konkurrenz mit dem "Respekt dem Anderen gegenüber" und ist daher recht offen; wenn frau in einem islamischen Land geheiratet hat und sich in Österreich scheiden lassen will, wird sie möglicherweise eine für sie nachteilige Scheidung nach dortigem Eherecht erleben.
Und dann "österreichisch" – da landet man beim Surfen schnell bei dem fatalen Wort von der "österreichischen Identität", totgeritten in endlosen Diskussionen des vergangenen Jahrhunderts, aber irgendwo gespenstisch hinter all den Inklusions-, Integrations- und Assimilationsdebatten lauernd. Diese österreichische Identität ist durch Jahrzehnte als eine negative gesehen worden. Als Qualtinger/Merz ihren Herrn Karl konzipierten, hat das Publikum sich selbst und der Welt diesen verschlagenen Gauner und schmierigen Opportunisten mit wohligem Gruseln als typischen Österreicher verkauft – jene kleine Zeile, mit der ihm die Autoren einen möglichen Immigrationshintergrund zugeschrieben haben, wurde überhört.
Als Josef Klaus gegen Bruno Kreisky als "echter Österreicher" antrat, verlor er prompt die Wahl. Den Historiker – und Patrioten – Friedrich Heer hat die negative Gewichtung zu einer Beschreibung des Kampfes um die österreichische Identität geführt, klarsichtig, aber publiziert 1981, einige Jahre vor dem großen Clash der Affäre Waldheim. Von nun an feierte der österreichische Selbsthass fröhliche Urstände. Das Phantasma der "Bajuwarischen Befreiungsarmee", kreiert vom verbrecherischen Einzelgänger Franz Fuchs, wurde von Elfriede Jelinek als "schlimmer" als die brennenden deutschen Asylantenheime angesehen, und Professor Schuster aus dem Heldenplatz des Thomas Bernhard verkündete unter großem Beifall im Burgtheater, dass in Österreich überhaupt "immer alles am schlimmsten" sei.
Das alles ist heute Geschichte, und das Kurz'sche Projekt ist wohl ein Zeichen dafür, dass die "Normalisierung" irgendwann einmal gegriffen hat. Aber war es nicht gerade diese Polarisierung, die uns eine unverwechselbare Identität gab? Was ist denn heute vom "Austriakum" geblieben? Ist es nicht durch Einwanderung, Globalisierung und Urbanisierung in die Unkenntlichkeit zerfallen? Die Lodenjacke kann man mit der Blue Jean kombinieren, die Imbisskette Schnitzelland ist fest in der Hand von Immigranten, und in den Einkaufsstraßen der Wiener Innenstadt finden wir die gleichen Marken und Auslagen wie in Berlin, Barcelona und Brüssel.
Was zwischen Hallstatt und dem Wiener Josefsplatz einmalig ist, kommt aus der Vergangenheit. Seestadt, Uno-City – das könnte doch alles überall stehen. Und mit den "Werten" ist es genauso wie mit Architektur und Mode: Was auch immer der Katalog durchdekliniert und als Wert verkleidet – von A wie Achtung vor Frauen über M wie Mülltrennung bis S wie Säkularisierung –, wird jedenfalls im Konsens mit den allgemeinen Prinzipien westlicher Zivilisation liegen. (Alfred Pfabigan, 9.11.2015)