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Foto: : Reuters / Hannibal Hanschke

Er ist natürlich noch der Alte – einerseits. Wacher Blick, manchmal ein spöttisches Lächeln. Doch wer den ehemaligen FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle am Wochenende erlebte – sei es in der ARD-Talksendung bei Günther Jauch oder bei Westerwelles Buchpräsentation im Berliner Ensemble – der sah einen anderen Menschen vor sich.

Die Augen sind rot gerändert, sein Gesicht ist aufgedunsen. Am markantesten aber ist Westerwelles Stimme, die früher so schneidend sein konnte, viel Selbstsicherheit und oft auch Selbstherrlichkeit vermittelte. Sie ist viel leiser geworden, fast sanft.

Was der Ex-Spitzenpolitiker sagt, hat man so auch noch nie von ihm gehört: "Wenn man nicht weiß, ob man etwas überlebt und eine große Chance besteht, dass man eine solche Krankheit nicht überlebt, leider, dann ist es ein unglaublich glückliches Gefühl, wieder mit Menschen zusammen sein zu können."

Westerwelle war von 2001 bis 2011 FDP-Chef, von 2009 bis 2013 Außenminister in Angela Merkels damaligem schwarz-gelben Kabinett. Ein Leben in Dauerstress, immer auf Achse, kaum Ruhe. Doch er ist einer, der nach seiner aktiven Zeit loslassen und das Leben mehr genießen will. Am 1. Jänner 2014, kurz nach seiner Abwahl, reißt ihm beim Joggen auf Mallorca der Meniskus.

Er verdrängt es zunächst, entschließt sich erst ein paar Monate später zur Operation. Eine Routineangelegenheit, eigentlich. Doch dann ist der Meniskus nur noch Nebensache. Beim Blutbild ist "irgendetwas durcheinander." Im Juni 2014 bekommt er in einer Kölner Klinik die Diagnose: akute myeloische Leukämie, eine der aggressivsten Formen von Blutkrebs. Eine Chemotherapie reicht nicht aus, Westerwelle braucht eine Knochenmarkstransplantation und kämpft um sein Leben.

"Es ist zu schaffen"

Diesen Kampf beschreibt er in einem Buch, das nun erschienen ist. Verfasst hat es der Ex-Chefredakteur des Stern, Dominik Wichmann (Zwischen zwei Leben, Hoffmann und Campe). Obwohl Westerwelle noch schwach ist, hat er die medialen Spielregeln nach wie vor bestens drauf. Vorabdruck in der Bild-Zeitung, Titelgeschichte mit Exklusiv-Interview im Spiegel, Auftritt bei Jauch, große Buchpräsentation.

Es strengt ihn an, aber es ist ihm keine Qual. Denn der heute 53-Jährige hat nun wieder eine Aufgabe: "Ich möchte anderen sagen: Es ist zu schaffen." Das wird in den kommenden Monaten seine Hauptbotschaft sein, er wird sie leiser unter die Menschen bringen als früher seine politischen Ziele.

Unvergessen ist, wie er 2002 eine große gelbe "18" auf die Schuhsohlen klebte und diese dann in der ARD-Talksendung Sabine Christiansen präsentierte. 18 Prozent wollte er damals bei der bevorstehenden Bundestagswahl holen, "Kanzlerkandidat" nannte er sich selber großspurig.

Es war ein völlig anderes Leben und er auch ein anderer Mensch. Das macht Westerwelle heute klar. Er beschreibt, was er während der Transplantation fühlt: "So muss es sich anfühlen, das Sterben" – zumal ihm die Ärzte immer schonungslos deutlich gemacht haben, dass seine Chancen nicht gut stünden. "Die Veränderungen in Ihrem Blut sind nicht mit dem vereinbar, was wir Leben nennen", sagt sein Onkologe Michael Hallek einmal zu seinem Patienten.

Wer so etwas durchgemacht hat, trauert keinen Prozenten bei Wahlverlusten und keinen politischen Niederlagen mehr nach: "Es ist vorbei. Es ist nicht mehr wichtig. Wenn ich heute zurückblicke, erscheint mir das so unbedeutend. Die Gemeinheiten, die Verletzungen, sie schrumpfen."

Unterstützung von Merkel

Sein Buch ist auch eine Liebeserklärung an seinen Mann Michael Mronz. Der fragte sicherheitshalber – als ihnen erklärt wurde, Westerwelle habe jetzt mit den Stammzellen des Spenders auch dessen Blutgruppe übernommen –, wie weit denn die Verwandlung gehen werden und ob Guido jetzt bald mit den Krankenschwestern flirten werde.

Die "Gefahr" bestand allerdings nicht. Eine Frau aber, so erzählt Westerwelle, habe ihm im Stillen unheimlich geholfen: seine frühere Chefin Angela Merkel. Es gab SMS, Treffen und immer wieder aufbauende Worte. Mit Merkel war Westerwelle gerade beim Italiener, als sein Arzt anrief, um mitzuteilen, dass man einen Spender gefunden habe.

So freimütig er von seinem Kampf, den Todesängsten und Rückschlägen erzählt – zu seiner früheren Partei, der FDP, hat Westerwelle nichts mehr zu sagen. Keine Ratschläge, kein Kommentar. Heute zählen für ihn ganz andere Dinge: in die Oper gehen, Freunde treffen und manchmal ein schönes Essen. (Birgit Baumann aus Berlin, 9.11.2015)