Mit einer programmatischen Rede hat David Cameron die entscheidende Runde der Verhandlungen über Großbritanniens Verbleib in der EU eingeläutet. Vor dem Thinktank Chatham House in London präsentierte der Premier am Dienstag eine Liste mit vier Themen: Sie reichen von größerer Flexibilität des Brüsseler Clubs über Garantien für Mitglieder außerhalb der Eurozone bis zur Einschränkung von Sozialleistungen für EU-Migranten. Er wolle die Mitgliedschaft seines Landes langfristig sichern, sagte Cameron, schloss aber ausdrücklich auch den Austritt nicht aus. "Diese Reformen sind nicht nur für Großbritannien gut, sondern für die gesamte EU."
In der knapp dreiviertelstündigen Rede betonte der Konservative mehrfach die Bedeutung der 28er-Gemeinschaft für die ökonomische und militärische Sicherheit Europas. Die Union sei kein Selbstzweck, sondern ein wichtiges politisches Instrument – vergleichbar mit Nato oder UN. Als zweitgrößte Volkswirtschaft sowie zweitgrößter Beitragszahler dürfe das Land darauf zählen, dass den Bedenken Rechnung getragen werde. "Wir gewinnen durch die Union hinzu, tragen aber auch viel bei."
Cameron verglich Europas Lage mit der Situation im Jänner 2013, als er die Volksabstimmung bis Ende 2017 versprochen hatte.
Rede mit Begleitbrief
Seither hätten der Ostukraine-Konflikt, die Eurokrise, die Flüchtlingswellen sowie die Terrortruppe IS verdeutlicht, warum die Kooperation der europäischen Demokratien wichtig sei. Gleichzeitig gebe es Probleme innerhalb der Europäischen Union, die angepackt werden müssten.
Die Rede sowie der Begleitbrief an EU-Ratspräsident Donald Tusk legen die Grundlage für die Gespräche bis zum nächsten EU-Gipfel Mitte Dezember. Sollte spätestens im Jänner Einigkeit über die britischen Ideen erzielt werden, rechnen in London viele schon im Juni mit dem Referendum – das ist auch die Strategie von Finanzminister George Osborne, der am Dienstag mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das weitere Vorgehen abstimmte.
Konkret wünschen sich die Briten folgende Veränderungen: Statt den Euro als Ziel wirtschaftlicher Integration zu begreifen, soll eine "Union diverser Währungen" definiert werden. Dies will London ebenso vertraglich festschreiben wie die förmliche Entlassung aus der Verpflichtung zu "immer engerer Union". Gemeinsam soll man sich größere Wettbewerbsfähigkeit auf die Fahne schreiben. Dann möchte London EU-Einwanderern für deren erste vier Jahre auf der Insel bestimmte Sozialleistungen vorenthalten.
Die Reaktionen in London fielen verhalten aus. Ein prominenter EU-Feind in der Tory-Fraktion, Jacob Rees-Mogg, nannte Camerons Forderungen "eine ziemlich dünne Suppe". Nigel Farage von Ukip sprach wegwerfend von einer "Charade: Er meint es ja nicht ernst." Die proeuropäische Labour-Abgeordnete Emma Reynolds kündigte die Unterstützung der Opposition für den Versuch an, EU-Immigranten Sozialleistungen vorzuenthalten.
"Unbedeutende Fische"
Tatsächlich stehen Cameron zu Hause mindestens so harte Auseinandersetzungen bevor wie in Brüssel. Mehr als ein Viertel der Unterhausabgeordneten, viele Oberhauslords sowie mehrere Minister wollen lieber heute als morgen den Ausstieg. Abschätzig verglich Exfinanzminister Nigel Lawson seinen Parteichef mit einem Fischer, der nur auf unbedeutende Fische abziele. Mit harten Bandagen geht die Dachorganisation Vote Leave vor: Sie registrierten eigens eine fiktive Firma, damit zwei Aktivisten am Montag Camerons Rede auf dem Jahreskongress des Industrieverbands CBI stören konnten.
Als hochproblematisch bezeichnete die EU-Kommission Camerons Forderungen. Kommissionssprecher Margaritis Schinas kritisierte am Dienstag vor allem die Beschränkung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer. Die Stärkung der nationalen Parlamente dürfte hingegen unproblematisch sein. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel zeigte sich zuversichtlich, für die "schwierigen und weniger schwierigen Punkte" eine Lösung zu finden – ohne aber ins Detail zu gehen. (Sebastian Borger aus London, 10.11.2015)