STANDARD: Warum haben wir eigentlich Angst?
Bandelow: Die Angst leitet uns jeden Tag elegant durchs Leben, morgens schon, wenn wir im Auto sitzen und aufpassen, dass wir nicht mit einem 20-Tonner kollidieren. Wenn wir diese Angst nicht hätten, würden wir nicht lange Leben.
STANDARD: Was ändert sich bei Ängsten, die wir kollektiv erleben?
Bandelow: Man muss unterscheiden zwischen individuellen Ängsten wie Panikstörungen oder sozialen Phobien und realen Ängsten vor zum Beispiel Naturkatastrophen oder der Inflation. Angstkrankheiten können die Menschen wirklich physisch krankmachen. Wenn man morgens in der Zeitung die Flüchtlingszahlen liest, runzelt man vielleicht die Stirn und macht sich sorgen. Das ist aber nicht zu vergleichen.
STANDARD: Was könnte man bei kollektiven Angststörungen machen?
Bandelow: In Deutschland sterben die meisten Menschen an Hitzewellen, da denkt keiner darüber nach. Eigentlich sind diese kollektiven Ängste wie die Angst vor Überfremdung unberechtigt. Bei diesen Ängsten gibt es eine Vier-Wochen-Regel: Nach vier Wochen wird nicht mehr darüber berichtet. Selbst nach Fukushima wurde danach nicht mehr berichtet, da war die Gefahr genauso schlimm wie unmittelbar nach der Katastrophe. Die Berichterstattung nimmt aber auch ab, weil die Angst sich gelegt hat. Menschen gewöhnen sich an Angstzustände. Letztendlich ist das Angstlevel von jemandem in einer Favela von São Paulo genauso hoch wie bei jemandem in Stockholm – auch wenn die realen Gefahren unterschiedlich sind.
STANDARD: Es gibt aber gewisse Urängste.
Bandelow: Diese Urängste haben eine spezielle Bedeutung. Gewisse Ängste – wie die Angst vor Spinnen – werden vererbt. Das erklärt, warum man heute in Deutschland noch Angst vor Spinnen hat, obwohl es – anders als in Österreich – keine gefährliche Art mehr gibt. In unserem Gehirn gibt es ein vernünftiges intelligentes Gehirn und ein animalisches Angstgehirn, das uns vor Spinnen, Schlangen und Tigern warnt. Das ist so einfach, dass es nicht zwischen Tigern und Schmusekatzen unterscheiden kann. Deswegen sind Katzenphobien auf Tiger zurückzuführen. Dieses einfache Angstsystem – ich nenne es immer das Ministerium für absurde Angst –, das ist das System, das sehr einfach gestrickt ist und Urängste hervorholt, die eigentlich hierorts nicht mehr notwendig sind. In anderen Regionen vielleicht schon. Alle diese Phobien gehen auf Ereignisse der Natur zurück: Sie werden nie erleben, dass es eine Steckdosen-, Fettsäuren- oder Zigarettenphobie gibt.
STANDARD: Die Angst als Warnmechanismus ist also nicht mehr so funktionierend wie früher?
Bandelow: So würde ich das nicht sagen. In 95 Prozent der Fälle funktioniert das gut: Wenn Sie vor großen Objekten ausweichen, funktioniert das wunderbar. Die Angst ist in den meisten Fällen sinnvoll, nur manchmal gibt es unangemessene Relikte aus der Urzeit.
STANDARD: Haben wir die Angst vor dem Fremden auch als Urangst in uns?
Bandelow: Bei der Angst vor dem Fremden muss man reale Ängste und Urängste unterscheiden. Reale Ängste sind Ängste um Arbeitsplätze, höhere Mietpreise oder Kriminalität – diese kann man den Menschen nicht nehmen. Teilweise ist es auch eine Urangst. Wir als Menschen haben uns vor tausenden Jahren in Stämmen organisiert, weil wir so besser überleben können. Diese Stämme haben sich wegen der geringen Nahrungsmittelressourcen bekämpft. Es war damals ein Überlebensvorteil, jemanden anderen zu erschlagen. So hat sich die Xenophobie teilweise auch in unserem einfachem Angstsystem gehalten. Das erklärt, warum – wenn heute Angst geschürt wird – diese oft in Hass umschlägt. Wenn Flüchtlingsheime brennen, liegt das auch an der Urangst der Menschen.
STANDARD: Welche Rolle spielen sachliche Erklärungen für Ängste?
Bandelow: Das Ministerium für absurde Angst ist nicht Ansprechpartner für intellektuelle Gespräche. Das einfache Angstsystem, das auch für irrationale Ängste verantwortlich ist, handelt intelligenzunabhängig. Im Gegensatz zu dem Vernunftgehirn ist es durch Fakten auch nicht zu überzeugen.
STANDARD: Reden wir heute mehr über Ängste als früher?
Bandelow: Ich bin seit 30 Jahren im Angstgeschäft; es wird gern behauptet, dass Ängste zunehmen. In Wirklichkeit bleibt es immer gleich, nur das Reden über Ängste hat zugenommen. Über die Angst zu schreiben und zu lesen hat auch einen reinigenden Charakter. Das ist so ähnlich, wie wenn Sie einen "Tatort" schauen. Da wird zuerst Angst aufgebaut, und um 21.40 Uhr schnappt der Kommissar den Mörder. Dann gibt es eine Endorphinausschüttung. Das ist der Grund, warum Leute gerne "Tatort" schauen, Achterbahn fahren oder in der Zeitung über schreckliche Dinge lesen. Zuerst wird Angst erzeugt, und dann stellt man fest, dass man nicht persönlich betroffen ist. Man bekämpft dadurch seine eigene Angst. (Sebastian Pumberger, 21.11.2015)