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Der türkische Premier Tayyip Erdoğan scheint nicht mehr besonders an einem EU-Beitritt interessiert zu sein. Die EU betrachtet die Türkei zwar als wichtigen Partner, aber ein Beitritt wird auch nicht mehr als erstrangiges Ziel angesehen.

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Erweiterungskommissar Johannes Hahn präsentierte am Dienstag die Kritik der EU an der Türkei – gesammelt im sogenannten Fortschrittsbericht. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei laufen seit 2005.

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Der am Dienstag von der EU-Kommission veröffentlichte Fortschrittsbericht zur Türkei kritisiert massive Rückschritte bei Menschenrechten und Demokratie. Im Vergleich zu den Berichten der Vorjahre fällt der Ton aber recht milde aus, sagt der Politikwissenschafter Cengiz Günay vom Österreichischen Institut für Internationale Politik. Die Türkei wird Günay zufolge als wichtiger strategischer, wirtschaftlicher und politischer Partner gesehen – nicht mehr wirklich als Beitrittskandidat.

STANDARD: Wie ist der aktuelle Fortschrittsbericht im Vergleich zu jenen in den Vorjahren einzuschätzen?

Cengiz Günay: Die darin aufgezählten Probleme bestehen schon länger als ein Jahr. Der kritisierte Reformprozesses ist schon seit zehn Jahren mehr oder weniger tot. Es ist zu massiven Rückschritten im Bereich der Demokratie gekommen. Presse- und Meinungsfreiheit werden auch dieses Jahr kritisch erwähnt. Meiner Meinung nach in recht mildem Ton. In den vergangenen vier Jahren ist es zu einer autoritären Wende in der Türkei gekommen. Die Entwicklungen sind wirklich besorgniserregend, und von einem ernsthaften Fortschrittsbericht würde ich mir eine stärkere Präzision erwarten. Die EU scheint sich allerdings damit abgefunden zu haben, dass die Türkei mehr und mehr in ein autoritäreres Muster verfällt.

STANDARD: Wie erklären Sie sich den milderen Ton der EU?

Günay: Zum einen ist die EU sehr mit sich selbst beschäftigt, sei es mit der Finanz- oder Griechenland-Krise oder aktuell mit dem Flüchtlingsthema. Zum anderen hat auch das Interesse an der EU-Erweiterung stark nachgelassen. Es ist gegenüber allen Beitritts-Kandidaten ein sinkendes Interesse zu beobachten – und gegenüber der Türkei ganz besonders. Ein Türkei-Beitritt ist in der europäischen Öffentlichkeit teilweise besonders unpopulär. Die Türkei wird zwar als wichtiger strategischer, wirtschaftlicher und politischer Partner wahrgenommen, aber nicht mehr als Beitrittskandidat gesehen, obwohl der Prozess weitergeht.

STANDARD: Die Veröffentlichung des Fortschrittsberichts wurde aufgrund der Parlamentswahl in der Türkei verschoben. Ist die EU da Präsident Tayyip Erdoğan entgegengekommen?

Günay: Ich kann mir vorstellen, dass Erdoğan das gefordert hat. Die EU ist derzeit in Geiselhaft der Türkei, weil sie in der Flüchtlingsfrage auf deren Kooperation angewiesen ist und sich in einer gewissen Weise hat erpressen lassen. Wenn die EU mit Ländern wie der Türkei eine strategische Partnerschaft eingegangen ist, dann rutschen idealistische Ziele rasch in den Hintergrund. Sicherheits- und wirtschaftspolitische Interessen stehen dann im Vordergrund.

STANDARD: Funktioniert der türkische Beitrittsprozess noch in irgendeiner Form?

Günay: Interessant ist, dass der Prozess auf technischer Ebene weiterläuft. Es gibt immer wieder Anpassungen an EU-Normen und Standards, und es gibt Programme, in die die Türkei involviert ist und die wichtig für die Zivilgesellschaft sind, weil da auch Finanzierungen stattfinden. Es läuft also einiges weiter, und deswegen ist der Kandidatenstatus wichtig für die Türkei und die türkische Zivilgesellschaft, aber zum Teil auch für den Anspruch der EU, langfristig vielleicht doch etwas zum Positiven zu verändern. Aber auf der politischen Ebene ist der Beitrittsprozess mehr oder weniger im Koma.

STANDARD: Warum wird der Prozess nicht komplett auf Eis gelegt?

Günay: Weil beide Seiten aufeinander angewiesen sind. Weder die EU noch die Türkei haben ein Interesse, den Prozess selbst zu beenden. Das würde nichts bringen. Die EU hätte weniger Verhandlungsmacht und weniger Einflussmöglichkeiten, wenn dieser Prozess unterbrochen wäre. Es gibt noch immer gewisse Karotten der EU, wie zum Beispiel die Visa-Liberalisierung für die Türkei. Die Türkei wiederum würde eine Perspektive verlieren, durch die sie in europäische Normen und Standards eingebunden ist, was das Land wiederum attraktiver für Investoren aus Drittländern macht.

STANDARD: Was hätte die EU tun können, um den Prozess politisch am Leben zu halten?

Günay: Die Flüchtlingskrise ist so dringlich geworden, weil die Flüchtlinge in Europa angekommen sind und wir die Dramatik an der österreichischen, der ungarischen, der mazedonischen, der deutschen Grenze haben. Die gleichen Bilder gab es auch schon vorher, einfach örtlich verschoben: in der Türkei, in Jordanien und im Libanon. Diese Länder sind in den vergangenen Jahren total alleingelassen worden mit dieser Problematik. Es wurde einfach weggeschaut und gehofft, das Problem würde sich schon regional lösen. Wenn das eine wirkliche politische Partnerschaft zwischen der EU und der Türkei wäre, könnten Probleme ernsthaft angesprochen werden, aber die EU müsste der Türkei in der Flüchtlingsproblematik verstärkt unter die Arme greifen und die derzeitige Situation als gemeinsames Problem betrachten.

STANDARD: Versucht die EU das nicht gerade?

Günay: Meiner Meinung nach wird das Thema Flüchtlinge nicht als ein gemeinsames Problem betrachtet, sondern die EU möchte das Problem so weit wie möglich auslagern. Die EU selbst bringt es nicht einmal auf die Reihe, die Flüchtlingsthematik als ein gemeinsames europäisches Problem zu betrachten, geschweige denn als ein gemeinsames Problem mit dem Libanon, mit Jordanien oder eben der Türkei. Anders als gemeinsam wird das aber nicht zu lösen sein.

STANDARD: Welches Interesse hat die Türkei an einer Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingsthematik?

Günay: Es sind derzeit mehr als zwei Millionen Flüchtlinge in der Türkei. Das ist eine große soziale und wirtschaftliche Belastung für die Gesellschaft. Auch die Türkei hat ein Interesse daran, das Flüchtlingsthema in den Griff zu bekommen. Erdoğan sitzt verhandlungstechnisch auf dem längeren Ast.

STANDARD: Spielt der Fortschrittsbericht innerhalb der Türkei eine Rolle? Wie wird er wahrgenommen?

Günay: Früher spielte er eine große Rolle und wurde mit Anspannung erwartet. Inzwischen sind die Rückschritte im Bereich der Demokratie und der Grundrechte so groß, dass Kritiker der Regierung Erdoğan enttäuscht sind, dass nicht schon früher Warn- und Ordnungsrufe aus der EU kamen. Parallel zu dem politischen Bedeutungsverlust des Beitrittsprozesses hat auch der Fortschrittsbericht an Bedeutung und innenpolitischer Sprengkraft verloren. Vonseiten der Regierung wird sich zum Teil auch darüber lustig gemacht oder Forderungen der EU mit Gegenbeispielen aus EU-Ländern zurückgespielt. Aber es ist weiterhin ein interessantes Dokument, das aufzeigt, was innerhalb eines Jahres passiert ist – in positiver und in negativer Sicht. (Michaela Kampl, 10.11.2015)