David Cameron ist lernfähig. Immerhin 39 EU-Gipfel habe er in seiner 66-monatigen Amtszeit bisher absolviert, sagt der Engländer. In den Gesprächen am Brüsseler Konferenztisch muss das eine oder andere hängengeblieben sein. Jedenfalls kamen in der Ansprache des Premiers zu Großbritanniens Platz in der EU allerlei Gesichtspunkte vor, die ihm die Partner vom Kontinent nahegelegt hatten. Wie schon in seiner Bloomberg-Rede vor knapp drei Jahren, als er den Countdown zur Volksabstimmung eingeläutet hatte, betonte der britische Premier immer wieder den Nutzen der angepeilten Reformen für alle, nicht nur für die Insel. Deren ökonomische und militärische Sicherheit hänge unter anderem auch vom guten Einvernehmen mit den Partnern vom Kontinent ab, erläuterte Cameron. Dies stellt zwar eine Selbstverständlichkeit dar, wird in der britischen Diskussion aber selten erwähnt.
Ausdrücklich lobte der Brite außenpolitische Gemeinsamkeiten des Brüsseler Clubs wie die Iran-Verhandlungen und die harte Haltung gegenüber dem russischen Imperialismus in der Ukraine. Dass er beide Initiativen seinem eigenen Land ans Panier heftete, sorgt bei manchen in Berlin oder Brüssel gewiss für Schmunzeln. Aber solche Streicheleinheiten sind den britischen Diplomaten zu gönnen.
Wieder einmal musste der Premier auf dem Hochseil spazieren: zwischen den Ansprüchen der EU-Partner einerseits und der unversöhnlichen Feindseligkeit vieler Parteifreunde andererseits. Dass ihm der Balanceakt gelang, spricht für die Redenschreiber der Downing Street. Eindeutig bejahte Cameron den Willen zu pragmatischer Zusammenarbeit und stellte für den Fall erfolgreicher Verhandlungen seinen Einsatz "mit Herz und Seele" für den britischen EU-Verbleib in Aussicht. Eindeutig schloss er aber auch nichts aus: Sollten seine Anliegen auf taube Ohren stoßen, könnte es doch zum Brexit kommen.
Der Premierminister begibt sich keineswegs auf eine "Mission impossible", aber vermeidbar ist diese Mission schon. Cameron vergeudet knappe Ressourcen an politischer Energie an weitgehend kosmetische Korrekturen.
Die EU-Feinde innerhalb seiner Partei wird er damit nicht zufriedenstellen. Ganz programmatisch haben sie sich in einer Gruppe mit dem Namen "Conservatives for Britain" zusammengeschlossen – als seien Skeptiker und die raren Freunde der Gemeinschaft entweder keine Konservativen oder keine guten Sachwalter britischer Interessen. Der Ton in der Referendumsdebatte verspricht rau zu werden.
Am Brüsseler Verhandlungstisch dürfte es der Engländer hingegen vergleichsweise leicht haben. Von einstigen Maximalforderungen wie der generellen Einschränkung der Freizügigkeit für Arbeitnehmer ist er rechtzeitig abgerückt. Eine Reihe seiner Wünsche, beispielsweise die Abkehr von der "immer engeren Union", lässt sich leicht erfüllen. Wettbewerbsfähigkeit verschrieb sich die Gemeinschaft zwar schon 2000 in der Lissabonner Agenda vergeblich, als Cameron noch nicht einmal dem Unterhaus angehörte. Sich das Ziel erneut vorzunehmen kann gewiss nicht schaden.
Und ob polnische und irische Arbeitnehmer in England wirklich Staatsgeld für Kinder kassieren sollten, die in der jeweiligen Heimat aufwachsen? Darüber lässt sich immerhin trefflich streiten. Einen Kompromiss zu finden sollte den Deal-erprobten Brüsseler Diplomaten nicht schwerfallen. (Sebastian Borger, 10.11.2015)