"Migranten profitieren von den gleichen Lebensumständen, werden aber genauso davon geschädigt", sagt Sozialwissenschafter Ramazan Salman über den Anstieg von Depressionen bei Zuwanderern.

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STANDARD: Vorsorgeprogramme werden von Migranten kaum angenommen: Woran liegt das?

Salman: Viele Menschen wissen nicht, dass es bei uns genauso war. Die staatliche Vorsorgekultur hat sich bei uns erst in den letzten 50 Jahren entwickelt. Viele Zuwanderer kommen aus Kulturen mit traditionellen Systemen. Man geht erst zum Arzt, wenn das Leid als schwere Krankheit erkennbar ist. Wir haben die Vorsorgekultur entwickelt, weil wir Krankheiten verhindern wollen, Kosten sparen und die Menschen leistungsfähig halten wollen. Diese Idee ist in ihrer Sozialisation nicht verinnerlicht. Besondere Zuwendung würde Sinn ergeben.

STANDARD: In welcher Form? In ihrer Muttersprache?

Salman: Die Realität ist viel diverser. Man muss es eher zweisprachig machen, gerade bei jungen Menschen. Sprache ist eine Ebene, aber auch die Gesundheitskompetenz ist in den meisten Gruppen nicht stark entwickelt. Wenn jetzt Syrer kommen, ist ihre geringste Sorge eine Grippe-Impfung – auch wenn das sinnvoll wäre. Wenn wir präventiv denken, müssen wir sie schützen.

STANDARD: Dabei ist doch der Zugang zum Gesundheitssystem recht niederschwellig. Jeder kann in ein Krankenhaus gehen.

Salman: Das ist aber nicht allen klar. Wir haben einen viel größeren Individualisierungsgrad. Jeder ist stärker für sich verantwortlich und deckt bestimmte Gesundheitsaspekte wie Vorsorge oder Impfungen selbst ab. Dazu zwingt einen ja keiner. Die kulturellen Unterschiede etwa zu ländlichen Regionen sind groß.

STANDARD: Der kulturelle Unterschied bezieht sich auf Eigenverantwortung?

Salman: Es ist nicht richtig, die Verantwortung unsachlich hin- und her zu schieben. Wenn Menschen zuwandern, tragen auch wir hier Verantwortung, dass es klappt. Das Gesundheitssystem muss gut bleiben und darf nicht ineffektiv werden. Da muss es sich auch weiterentwickeln. Das zeigt sich etwa beim Dolmetschen.

STANDARD: Das sollte selbstverständlich sein. Ist das auch der Fall?

Salman: Es muss sein, denn Patientenrechte sind enorm wichtig, die Patienten müssen über Behandlung und Alternativen aufgeklärt werden. Damit kann ich sie auch selbstständig machen, um den Prozess sinnvoll zu gestalten. Sie kommen ja auch zu uns, weil es hier ein Menschenrecht auf Gesundheit gibt. Jedes Kind, das an Leukämie erkrankt, bekommt eine Therapie.

STANDARD: Es geht aber nicht nur um sprachliche Verständigungsschwierigkeiten, sondern auch um kulturelle.

Salman: Darüber wunder ich mich seit 30 Jahren. Die Unterschiede im Gesundheitswesen kommen daher, dass sie andere Sichtweisen von Gesundheit haben, die auch religiös bedingt sind. Um gesund zu werden, brauchen etwa Araber viel Besuch. Wenn nicht die ganze Gemeinschaft zeigt, dass sie Anteil an deiner Krankheit hat, wirst du depressiv und schwerer gesund. Diese Unterschiede wurden viel zu lange vor uns hergefegt. Man kann sie verstehen lernen. Es gibt viele Ärzte, die in ein Land reisen, wo viele ihrer Patienten herkommen.

STANDARD: Zuwanderer werden oft als Kostenträger für das Sozialsystem bezeichnet. Dabei stimmt das nicht.

Salman: Sie zahlen nennenswert mehr ein, als sie herausbekommen, das hat eine Bertelsmann-Studie ergeben. Das hat aber nicht nur angenehme Hintergründe, denn die Lebenserwartung ist deutlich niedriger. Bei türkischen Industriearbeitnehmern lag sie zwölf Jahre unter dem deutschen Schnitt, heute sind es nur noch vier bis fünf Jahre. Sie haben aber trotzdem eine höhere Lebenserwartung als in ihrem Herkunftsland. Das heißt, sie sind dabei, sich zu integrieren. Da sie aber eher sterben, kassieren sie nie sehr lange Rente. Das System wird manchmal nicht sinnvoll genutzt, wie man eben bei Vorsorge sieht.

STANDARD: Einer Studie der Med-Uni Wien zufolge sinkt bei Migranten die Zufriedenheit mit dem Alter. Hängt das damit zusammen?

Salman: Das ist ein Sozialisationsprozess. Das wird manchmal überbewertet. In manchen Kulturen ist das typisch. Sie würden eigentlich in einer Wohnung mit ihren Kindern leben und von ihnen versorgt werden. Hier ist es aber nicht so, weil sie in einer Gesellschaft leben, in der ihre Kinder leistungsfähig sein sollen und nicht ihre Eltern pflegen können.

STANDARD: Gleichzeitig steigen aber auch psychiatrische Erkrankungen und psychische Probleme: Woran liegt das?

Salman: Bei Depressionen beobachten wir einen starken Anpassungsprozess. Migranten profitieren von den gleichen Lebens- und Arbeitsumständen wie alle anderen auch, werden aber genauso von ihnen geschädigt. Diese Umstände fördern Depressionen. Hinzu kommt noch der kulturelle Wandel. Die älteren Menschen haben nicht so ein Problem mit der Mehrheitsgesellschaft, sondern innerhalb der eigenen Kultur. Es findet ein Modernisierungsschub in der Familie statt: das Rollenverständnis oder auch der Umstand, dass junge Menschen nicht mehr gehorchen und für sich selbst entscheiden. Wenn innerhalb einer Familie junge Menschen sich individualisieren, ist das eine kulturelle Diversität in der Familie. Das ist ein Druck- und Stressfaktor, der seelische Belastungen und Krankheiten stark begünstigt. (Marie-Theres Egyed, 12.11.2015)