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Beim Jogye-Tempel in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul wurden eigene Plätze für jene Eltern eingerichtet, die für den Erfolg ihrer Kinder bei den Uni-Aufnahmetests beten wollen.

Foto: AP / Lee Jin-man

Der 20-jährige Im Jae-woo trat zweimal beim Suneung an.

Foto: Kretschmer

Am Donnerstagmorgen stehen über tausend Polizeieskorten an Seouls U-Bahn-Höfen in Bereitschaft, die Militärübungen werden vorübergehend ausgesetzt und der Flugverkehr eingestellt. Auch die Börse öffnet heute eine Stunde später, genau wie die meisten Büros der Zehn-Millionen-Metropole – damit die Angestellten die U-Bahnen für die Oberschüler freihalten. Wenn Südkoreas Jugend zum Uni-Eingangstest antritt, der Quintessenz des konfuzianischen Bildungshungers, dann kommt ein Land auf der Überholspur für einen Vormittag zum Stillstand.

Beim "Suneung" entscheidet sich heute das Schicksal für über 630.000 junge Südkoreaner, denn die Uni-Wahl bestimmt wie in kaum einem anderen Land das soziale Ansehen, die Berufs- und auch die Heiratschancen. "Seitdem ich eingeschult wurde, war mein ganzes Leben auf diesen einen Tag ausgerichtet", sagt der 20-jährige Im Jae-woo.

Der Terminkalender des Oberschülers hätte den jedes Firmenvorstands in den Schatten gestellt: Um 6.30 Uhr klingelte der Wecker, eine Stunde später fing der Schulunterricht an. Nach dem Abendessen hockten die Schüler bis 23 Uhr unter eiserner Aufsicht der Lehrer über ihren Büchern, bis danach noch die Schulaufgaben warteten. "Zu Hause bin ich meist sofort ins Bett gefallen", erinnert sich Im.

Hochleistungssport Lernen

"Wie Hochleistungssportler haben sich die Schüler ausschließlich auf die Schule konzentriert. Dabei ging es nicht darum, fürs Leben zu lernen – sondern für die Prüfung", sagt ein Deutschlehrer, der über zwei Jahre in Seoul unterrichtet hat.

Noch in den 1960er-Jahren war Südkorea das sechstärmste Land der Welt, heute zählt es zu den zehn größten Handelsmächten überhaupt. Bei dem Wirtschaftsaufschwung musste Südkorea fast gänzlich ohne natürliche Ressourcen auskommen. Also konzentrierte sich der Tigerstaat auf die Bildung der Bevölkerung. Die bestand noch vor 60 Jahren zu großen Teilen aus Analphabeten. Mittlerweile gibt es in keinem Land der Welt mehr Uni-Absolventen, und auch beim Pisa-Test sind Südkoreas Schüler Weltmeister. Sogar US-Präsident Obama lobte einst, wie sich koreanische Eltern um die Bildung ihrer Kinder sorgen – doch das ist nur die eine Seite der Medaille.

Wer es auf eine der drei Top-Universitäten des Landes schafft, hat soziales Ansehen und eine Festanstellung bei den großen Mischkonzernen wie Samsung oder Hyundai so gut wie sicher. Die restlichen 98 Prozent werden auf einen Arbeitsmarkt geworfen, der der Jugend so wenig Arbeitsplätze bieten kann wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Wer zu lange auf Jobsuche ist, wird gnadenlos von Personalabteilungen ausgesiebt, und in der konformistischen Gesellschaft Südkoreas sind zweite Chancen rar gesät.

Kostspielige zweite Chance

Das weiß auch Schüler Im Jae-woo. Als er damals seine 155 Prüfungsantworten um genau 15.52 Uhr abgab, lautete sein erster Gedanke: Zumindest ist es jetzt vorbei. Dabei ging es da erst richtig los. "Mit meinen Noten hätte mich höchstens eine mittelmäßige Uni genommen", sagt er. Die Eltern bestanden darauf, dass er ein zweites Mal am Suneung teilnimmt. Für umgerechnet 2000 Euro im Monat schickten sie ihn zu Privattutoren und Nachhilfeinstituten. "Für mich war das eine sehr schwierige Zeit", sagt Im. "Ich wollte ja auch mal Zeit für andere Dinge haben als nur das ständige Auswendiglernen für den Test."

Als einzigem aller OECD-Länder ist Suizid in Südkorea die häufigste Todesursache unter Teenagern. Ebenso führt das Land Jahr für Jahr die Liste der unglücklichsten Jugendlichen an – als Hauptgrund wird in Umfragen stets der schulische Leistungsdruck genannt. Im April sind zwei 16-Jährige in der Stadt Daejeon in den Tod gesprungen. Auf ihrem Abschiedsbrief stand geschrieben: "Wir hassen Schule."

Schüler Im Jae-woo sagt heute rückblickend über seine Schulzeit: "Dieses System hat mich so frustriert, dass ich beinahe aufgegeben hätte." Auch wenn seine Prüfungsergebnisse beim zweiten Suneung noch schlechter ausfielen, hat er dennoch seine Zuversicht wiedergefunden: "Heute bin ich mir sicher, dass es nicht nur diesen einen Weg gibt zum Erfolg und für ein glückliches Leben."

Beim Jogye-Tempel in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul wurden eigene Plätze für jene Eltern eingerichtet, die für den Erfolg ihrer Kinder bei den Uni-Aufnahmetests beten wollen. (Fabian Kretschmer aus Seoul, 12.11.2015)