Im Eingangsbereich des mehrstöckigen Hauses in der Karl-Marx-Straße 119a in Dnipropetrowsk hängen an einer Tafel dicht an dicht Blätter in unterschiedlichen Größen an der Wand. Maschinen- oder handschriftlich sind die Texte formuliert: Ein Kindergarten braucht einen Erzieher, Gas- und Elektroarbeiter für Baustellen werden gesucht, eine Zwei-Zimmer-Wohnung steht zu vermieten. Dazwischen finden sich auch kostenlose Massageangebote für Leute aus dem Donbass und ein Angebot für eine gemeinsame Angstbewältigung nach der Flucht.

Das früher als Wohnheim für Straßenbahner genutzte Gebäude ist heute ein von der Freiwilligenorganisation Dopomoga Dnipra betriebenes Transitzentrum für Flüchtlinge aus den Separatistengebieten im Osten der Ukraine, die in Dnipropetrowsk gestrandet sind. Nur vier Stunden Autofahrt trennen die Industriestadt mit rund einer Million Einwohner von Donezk, einem der Zentren der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee. Die Stadt ist eine der Anlaufstellen für Flüchtende aus der Kriegsregion.

Bild nicht mehr verfügbar.

Flüchtlinge in einer provisorischen Unterkunft in Slowjansk – zwei Autostunden von Donezk enfernt.
Foto: EPA/ROMAN PILIPEY

Seit Beginn des bewaffneten Konflikts sind laut der Hilfsorganisation UNHCR 1,4 Millionen Menschen aus den Kriegsgebieten rund um Donezk und Luhansk in andere Teile der Ukraine geflohen. Weitere 1,1 Millionen haben sich auf den Weg in Nachbarländer wie Russland und Polen gemacht. Der gesamte Oblast Dnipropetrowsk hat laut Zahlen der Hilfsorganisation Shelter Cluster bis in den August offiziell rund 75.000 Flüchtlinge aufgenommen. Allerdings dürfte die tatsächliche Zahl um einiges höher liegen, denn nicht alle Flüchtlinge wurden als solche registriert, wenn sie zum Beispiel bei Verwandten unterkommen. Zum Vergleich: Während der Jugoslawien-Kriege waren laut Schätzungen des UNHCR rund 2,3 Millionen als Flüchtlinge registriert.

Machtkampf lähmt die Stadtverwaltung

Für viele Flüchtende aus den Seperatistengebieten ist das Transitzentrum die erste Anlaufstelle. Die Bodendielen sind rot gestrichen, die Gänge in ausgewaschenem Grün getüncht. Plakate an den Wänden, Wäsche hängt zum Trocknen vor den Zimmertüren. Im zweiten Stock ist in einem der Wohnräume auch das Büro von Dopomoga Dnipra untergebracht: zwei Schreibtische mit Computern, eine verblasste Blumentapete und an der Wand eine Karte der Ukraine, Post-its und die gelb-blaue Fahne des Landes daneben. Dort sitzt Wladislaw Makarow, der Leiter von Dopomoga Dnipra, und erzählt ganz pragmatisch, was in den vergangenen Monaten hier passiert ist. Derzeit gebe es weniger Ankünfte, aber vor einem Jahr waren es mehr als 300 Personen, die täglich in Dnipropetrowsk ankamen und mit dem Nötigsten versorgt werden mussten.

Zumindest alle fünf Minuten klingelt sein Handy. Makarow, in schwarzer Jean, schwarzem langärmligem Shirt und raspelkurzen dunkelbraunen Haaren, nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Die Stadtverwaltung funktioniere seit einem halben Jahr nicht mehr, sagt der ehemalige Taekwondo-Trainer.

Ein politischer Machtkampf halte die Stadt in Geiselhaft, seit der Oligarch Ihor Kolomojski im März als Gouverneur des Oblast Dnipropetrowsk nach einem Konflikt mit Präsident Petro Poroschenko abgesetzt wurde. "Die politische Lage der Stadt ist tausendmal schlimmer als vor einem Jahr", sagt Makarow. Noch Anfang Oktober, kurz vor Beginn der Heizperiode, war aus bürokratischen Gründen unklar, wie das Gebäude im Winter warm gehalten werden soll. Auch die Finanzierung des Projekts ist für das kommende Jahr nicht gesichert. Bisher kam das Geld von der Stadtverwaltung und internationalen Organisationen wie dem UNHCR und der USAID.

Bild nicht mehr verfügbar.

Ukrainer, die auch die polnische Staatsbürgerschaft haben, bei ihrer Ankunft in Polen. Mehr als eine Million Ukrainer sind seit Kriegsbeginn aus ihrem Land geflüchtet.
Foto: EPA/ADAM WARZAWA

Keine Arbeit, keine Wohnung, kein Geld

Die drängendsten Problem der Flüchtenden sind der ungeklärte Aufenthaltsstatus und die Suche nach Arbeit und einer Unterkunft. Die Arbeitssuche gestaltet sich besonders schwierig in einem Land, dessen Wirtschaft nach Ausbruch der Krise eingebrochen ist. Das BIP wird dieses Jahr um zehn Prozent sinken, die Arbeitslosigkeit lag laut Berechnung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im Jahr 2013 bei 7,2 Prozent. Über die aktuelle Situation gibt es keine verlässlichen Daten. Es ist aber davon auszugehen, dass die Arbeitslosenrate aufgrund der wirtschaftlichen Situation gestiegen ist. Es gibt in der Ukraine keine mit österreichischem Niveau vergleichbare Arbeitslosenversicherung, deswegen lassen sich viele gar nicht als arbeitslos registrieren und verfälschen so die Statistik.

Registrierte Flüchtlinge bekommen umgerechnet 20 Dollar im Monat in den ersten beiden Monaten, danach gibt es weitere zwei Monate noch zehn Dollar. Pensionisten und Familien mit Kindern erhalten etwas mehr; zum Leben reicht aber auch dieser Betrag nicht.

Rückkehr aus Mangel an Perspektiven

In der Karl-Marx-Straße helfen derzeit 50 Freiwillige bei der Betreuung der Flüchtlinge, die nur ein bis zwei Wochen hier bleiben können; dann sollten sie einen anderen Platz gefunden haben. Rund die Hälfte von ihnen kommen in Wohnungen der Stadt unter, die anderen in Privatwohnungen. Aber wenn weder Wohnung noch Arbeit gefunden werden können, kehren einige Flüchtlinge auch wieder zurück – wenn sie denn etwas haben, wohin sie zurückkehren können. Denn oft sind Wohnungen oder Wohnhäuser und Fabriken in den Seperatistengebieten zerschossen und unbewohnbar.

Auch Irina hat ihren Heimatort Popasna, rund 80 Kilometer westlich von Luhansk, im Februar nach heftigem Artilleriebeschuss verlassen, erzählt die knapp 40-Jährige mit ruhiger Stimme. Sie wohnt seither im Transitzentrum und arbeitet in der dortigen Küche. Wenn das Wohnheim geschlossen wird, wird auch sie zurückgehen. Nicht weil sie will, sondern weil es keine andere Perspektive gebe. (Michaela Kampl, 12.11.2015)