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In Griechenland wird wieder großflächig gestreikt. Dadurch werden Erinnerungen wach, dass das Land vor nur vier Monaten noch am Abgrund stand und mehr als nur Spekulationen über einen Austritt aus der Eurozone die Runde machten. Inzwischen hat sich die Lage dank umfassender Hilfszusagen wieder beruhigt, doch gelöst wurden die Probleme nicht. Vielmehr hat sich die europäische Aufmerksamkeit zum Thema Flüchtlinge verlagert. Beide Krisen haben eines gemein: Sie waren lange vorhersehbar, ohne dass die EU rechtzeitig und richtig reagiert hätte.

Im Falle Athens wurde die Rechnung für die Hinhaltetaktik schon mehrmals – in Form immer neuer Hilfspakete – präsentiert. Auch das kürzlich vereinbarte dritte Programm wird voraussichtlich nicht halten. Ein Land mit derart maroden Strukturen kann keine Schuldenlast japanischen Ausmaßes schultern. Selbst wenn Griechenland bei Zinshöhe, Kreditfrist und obendrein mit tilgungsfreien Perioden entgegengekommen wird, verhindert der finanzielle Aderlass, dass Athen wieder auf eigene Beine kommen kann.

Zum verabsäumten Schuldenschnitt, den die Eurozone partout nicht akzeptieren wollte, kommen die zahlreichen Schwachstellen der griechischen Politik. Von funktionierender Steuereintreibung, Umbau des Pensionssystems und wachstumsfördernden Investitionen wurde seit dem ersten Ausrücken der Troika viel geredet, die Verbesserungen müssen aber mit der Lupe gesucht werden. Auch wenn die Arbeitslosigkeit in anderen, einst vom Kollaps bedrohten Ländern viel zu hoch ist: Während Irland, Spanien oder Portugal – in all den Staaten gab es nach Ausbruch der Schuldenkrise massive Einschnitte – wieder zufriedenstellende bis ausgezeichnete Wachstumsraten verzeichnen, steckt Griechenland tief in der Krise fest. Dort werden auch weiterhin Hilfsgelder für die Finanzierung von Frühpensionierungen im Staatsapparat verwendet, anstatt die Wirtschaft flottzumachen.

Um die 300 Milliarden Euro an Hilfen wird das Land wohl verschlingen. Bei den Flüchtlingen sind die EU-Länder weit von derartigen Größenordnungen entfernt. Doch ähnlich wie bei der griechischen Tragödie wird auch bei der Odyssee der Migranten versucht, den Bürgern Sand in die Augen zu streuen. Aus allen Nähten platzende Flüchtlingscamps in den Nachbarländern Syriens haben Experten schon vor Jahren zu Warnrufen veranlasst. Auch dass Griechenland und Italien die Außengrenzen der EU nicht mehr ausreichend schützen, war schon im ersten Halbjahr 2015 kein Geheimnis mehr.

Als dann Menschenmassen die österreichischen Grenzen passierten, brach Hektik aus. Die Willkommenskultur polierte Deutschlands und Österreichs Image in der Welt auf, doch Probleme sozialer, kultureller und finanzieller Natur werden damit keine gelöst. Mittlerweile ist Realismus eingekehrt, und das Pendel schlägt in die Gegenrichtung aus. "Zäune bauen" heißt die neue Devise. Deutlicher konnte die Kehrtwende nicht ausfallen.

Es ist bloßer Zufall, dass Flüchtlings- und Euroturbulenzen beide in Griechenland kulminieren. Symbolkraft hat das Zusammentreffen allemal: Durch langes Wegschauen verwandelten sich große Herausforderungen in riesige Krisen, die an den Grundfesten Europas rütteln. Immer weniger Bürger wollen der EU auf ihrem Weg von einer zu nächsten Misere folgen. (Andreas Schnauder, 12.11.2015)