Engagierter Citoyen: Doron Rabinovic wurde mit dem Ehrenpreis für Toleranz in Denken und Handeln ausgezeichnet. Sein Motto: Liebe deinen Widerspruch wie dich selbst.

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Wer kann Toleranz sagen, ohne an Lessing zu denken? Der Jude Nathan weiß, wie er reden muss, um als Nathan, der Weise durchzugehen. Er hat unmenschlich gut zu sein, um nicht der Unmensch schlechthin zu werden. Er kann nur süßer Jude oder Jud Süß sein. Zum Tempelherrn meint er: "Verachtet/ Mein Volk so sehr Ihr wollt. Wir haben beide/ Uns unser Volk nicht auserlesen. Sind/ Wir unser Volk? Was heißt denn Volk?/ Sind Christ und Jude eher Christ und Jude,/ Als Mensch?"

Im September 1959 widersprach Hannah Arendt dem weisen Nathan. In ihrer Dankesrede zur Entgegennahme des Lessing-Preises der Freien und Hansestadt Hamburg erklärte Arendt, "in diesem Zusammenhange nicht verschweigen" zu dürfen, sie betrachte "eine Haltung, die im Sinne – nicht im Wortlaut – des Nathan auf die Aufforderung: 'Tritt näher, Jude!' mit einem: 'Ich bin ein Mensch'" antworte, als "ein groteskes und gefährliches Ausweichen vor der Wirklichkeit". Arendt fügte hinzu, für sie bedeute das Wort "Jude" keineswegs irgendeine hervorragende Art des Menschseins. Ihr gehe es vielmehr um den Grundsatz, "daß man sich immer nur als das wehren kann, als was man angegriffen ist".

Arendt nannte ihre Rede "Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten". Der Glaube an die Macht der Toleranz war in Auschwitz verbrannt worden. Seine ganze Weisheit und seine Hoffnung auf die Aufklärung nutzten Nathan und den Seinen dort nichts mehr. Dass einer dann nicht bloß Jude, sondern vor allem Mensch sein wollte, half ihm nicht, sondern machte ihn, im Gegenteil, noch verhasster. Schon im Herbst 1944, in jenen dunklen Tagen, schrieb Jean-Paul Sartre seine "Überlegungen zur Judenfrage". Noch wurden die Juden in Europa ermordet, aber Sartre erklärte nicht nur den Antisemiten zum wahren Feind aller Menschen, sondern er deckte auf, wie der falsche Freund der Juden aussehe. Der Demokrat, so Sartre, wolle den Juden als Menschen retten, indem er ihn als Juden auslösche. Der Jude stecke in einer Zwickmühle, dürfe sich nur aussuchen, ob er roh verspeist werden wolle oder gekocht, denn der Antisemit wolle ihn als Menschen vernichten, um den Juden in ihm wahrzunehmen, der Demokrat hingegen wolle ihn als Juden abschaffen, um in ihm nur den Menschen zu bewahren.

Zweifellos würde so ein Demokrat, wie Sartre ihn beschreibt, für sich beanspruchen, für die Toleranz zu sein. Aber was soll das für eine Toleranz sein, die den anderen erst akzeptiert, wenn er seine Eigentümlichkeit aufgibt? Braucht es umgekehrt, frage ich mich, soeben mit einem Preis für Toleranz ausgezeichnet, überhaupt Toleranz, um darzulegen, dass alle das gleiche Recht haben sollten, verschieden zu sein? Geht es zudem um Toleranz, wenn wir den Schutzbefohlenen Hilfe leisten? Ist es nicht das Menschenrecht, das dann verlangt ist? Als Jude angegriffen, verteidige ich mich als Jude, doch wenn ich als Mensch gefragt bin und nicht als Mensch antworte, würde ich als Jude und als Mensch gleichermaßen versagen. Es geht darum, den anderen im Menschen, doch auch den Menschen im anderen anzuerkennen. Wenn Abertausende etwa um ihr nacktes Leben rennen, ob sie Jesiden sind, Kurden, Moslems oder Christen, wenn ihnen das Wellenmeer sicherer vorkommt als ihr Land, wenn Kinder in Lastern um Atem ringen, wenn Schwangere auf nacktem Boden gebären, wenn Kranke im Freien frieren, dann geht es nicht, wie oft gesagt wird, um Toleranz, sondern bloß um die konkrete Linderung der Not. Hier keine Lösung zu suchen wäre so unvernünftig wie die Idee, in unseren Ländern die Gesundheitsversorgung nicht mehr zu gewährleisten, für Schulbildung nicht zu sorgen, der Arbeitslosigkeit nicht gegenzusteuern. Als europäische Minister, auch österreichische, die Versorgung der Flüchtlingslager im Krisengebiet abstellten, war das nicht Intoleranz, sondern eine Ignoranz, deretwegen der Hunger viele nach Europa trieb. Solche Politiker beugen ihren Kopf vor dem rechtsextremen Populismus, bis er sie politisch enthauptet.

Wann geht es um Toleranz? Ist die Mehrheit denn tolerant, wenn sie den Bau von Moscheen erlaubt? Ist es nicht ohnehin im Interesse aller, die muslimischen Gottesdienste nicht in den Hinterhof zu verbannen und an den Rand abzudrängen? Müssen nicht im Sinne der Gleichberechtigung Moscheen und Minarette gestattet sein?

Toleranz beginnt doch erst dort, wo ich mir etwas abverlange, was tatsächlich gegen mich geht. Ich bin nicht tolerant, wenn ich meiner Tochter erlaube, in einem Buch zu schmökern, denn ich freue mich ja über ihre Leselust, und ein Musikliebhaber, der seinem Nachbarn, dem gefeierten Violinvirtuosen, mitteilt, ihn nicht wegen Lärmbelästigung klagen zu wollen, so er eine Freikarte fürs Konzert bekommt, beweist nicht Edelmut, sondern eher Chuzpe.

Das Wort Toleranz hat einen schalen Beigeschmack, weil es so gespreizt daherkommt. Toleranz wurde bekanntlich gewährt. Als Josef II. sein Toleranzpatent erließ, ermöglichte er damit den Protestanten und den Orthodoxen die freie Religionsausübung, doch ihre Bethäuser durften als Kirchen nicht erkennbar sein, und sie durften über keinen Turm, um nicht zu sagen, über keine Minarette verfügen. Den Juden, wenn auch eben nur den tolerierten, erließ er 1782 die Leibmaut und die jüdische Tracht. Die Ghettos wurden aufgehoben. Juden durften Hochschulen besuchen, jeglichen Handel und jedes Handwerk ausüben, Dienstboten einstellen, öffentliche Lokale frequentieren, ja, selbst sonntags vor zwölf Uhr das Haus verlassen. Aber die Bürgerrechte blieben ihnen verwehrt. Ihre Kinder mussten nun auf deutsche, meist christliche Schulen. Ihre Berufe durften sie nur bei christlichen Meistern lernen. Sie konnten keine Gemeinde gründen, keine öffentliche Synagoge erbauen, keine eigene Buchdruckerei betreiben.

Zu Recht stellte Goethe bereits fest: "Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen." Goethe spricht von einer Praxis, die dem Außenseiter die Freiheit nicht garantiert, sondern bloß vorderhand einen Freiraum zugebilligt. Das Recht der Andersgearteten wird nicht zur Selbstverständlichkeit, sondern bleibt eine Laune des Herrschers. Über diese Herablassung, die sich Toleranz nennt, schrieb Heinrich Heine bereits in seinem Gedicht "An Edom: Ein Jahrtausend schon und länger,/ Dulden wir uns brüderlich,/ Du, du duldest, daß ich atme,/ Daß du rasest, dulde Ich.// Manchmal nur, in dunkeln Zeiten,/ Ward dir wunderlich zu Mut,/ Und die liebefrommen Tätzchen/ Färbtest du mit meinem Blut!// Jetzt wird unsre Freundschaft fester,/ Und noch täglich nimmt sie zu;/ Denn ich selbst begann zu rasen,/ Und ich werde fast wie Du."

"Du, du duldest, daß ich atme/ Daß du rasest, dulde ich." Kann besser ausgedrückt werden, wieso eine solche Haltung für die Mächtigen nicht dasselbe wie für die Ohnmächtigen sein kann? "Leben und leben lassen" heißt in diesem Fall, die einen wissen, richtig zu leben, und die anderen werden eben noch leben gelassen.

Aber aus der einstigen Gnade erwuchs das heutige Gesetz. Das Denken der Toleranz floss in das Menschenrecht ein. Wir bitten nicht mehr um Duldung. Wir verbieten Diskriminierung. Der andere widerspricht zwar meinen eigenen Anschauungen, wird jedoch in seiner Existenz anerkannt. Auf die innere Ablehnung folgt die allgemeine Zusicherung, die andere Anschauung zu respektieren.

Aber bereits die Erwähnung der Antidiskriminierungsgesetze zeigt an, wo die Grenzen der Toleranz liegen. Wer Gleichheit mit Gleichgültigkeit und Freiheit mit Freibeuterei verwechselt, wird zum Henkershelfer jener, die gegen den Außenseiter mobilmachen. Die Freiheit der Meinung kann bloß gewährleistet werden, wenn die Regeln der Kommunikation geachtet bleiben, wenn die Hetze gegen Frauen, gegen Homosexuelle oder Andersgläubige geahndet wird.

Hier zeigt sich die schillernde Ambivalenz der Toleranz, denn die Gesetze zum Schutz vor Diskriminierung gelten dem einen als Garant der offenen Gesellschaft und dem anderen als dogmatische Intoleranz. Es ist der Kontext, der entscheidet, wer vor Verhöhnung geschützt werden muss und wer sie sich gefallen lassen darf. Jeder kann jeden fressen, ist nicht das Gleiche für Katz und Maus. Die Maus braucht, um nicht verzehrt zu werden, ein Zusatzrecht. Es ist das Vorrecht des Schwächeren. Demokratie ist nicht bloße Mehrheitsmacht, denn die Volksherrschaft ohne Menschenrechte würde zur totalitären Diktatur verkommen.

Wir sind indes Zeugen einer Praxis, die mit islamistischen Staaten Geschäfte betreibt, um daraufhin alle Moslems hierzulande unter Generalverdacht zu stellen. Unterdessen wird immer wieder die Freiheit der Kunst aufgegeben, um die Gefühle Religiöser nicht zu verletzen, und manche scheuen sich gar, vom Antisemitismus der islamistischen Ideologie zu reden, ja, unsere Regierung verschwieg erst sogar, warum der koschere Supermarkt in Paris überfallen wurde, um zu erklären, dort seien Menschen ermordet worden, die zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen seien. Zugleich warnt nun jener Rechtsextremist vor muslimischem Antisemitismus, der selbst vor nicht so langer Zeit eine einschlägige Karikatur – einen Bankerjuden mit Hakennase und Judensternen als Manschettenknöpfen – veröffentlichte. Plötzlich tut er so, als sei er Nathan, der Weise höchstpersönlich, dabei ist er nur der Weiße, der statt von Natur und Rasse nun von Kultur und Abendland spricht. Das alles geschieht in wessen Namen? Erraten. In jenem der Toleranz.

So gesehen bin ich wohl nicht sehr tolerant. Ich respektiere etwa tolerante Rassisten nicht, sondern schreibe an gegen Rassismus. Ich werde im Flugzeug nicht den Platz wechseln, wenn einer der Eiferer irgendeiner Konfession beschließt, nicht neben einer Frau sitzen zu wollen. Ich sehe nicht ein, weshalb Maler oder Karikaturisten Mohammed nicht abbilden dürfen. Sicher: Antimuslimische Kampagnen und rassistische Zerrbilder müssen als Hetze gegen eine Minderheit geächtet werden. Aber was, wenn morgen eine muslimische Fraktion beschlösse, es gebe nichts Heiligeres, als Mohammed abzubilden? Wessen religiöse Gefühle müssten dann geachtet und wessen daraufhin unweigerlich verletzt werden? Ich kann doch nicht die Gebote eines Gottes befolgen, von dem ich kaum weiß, dass ich nicht an ihn glaube. Oder, schärfer gesagt: In der multikulturellen Gesellschaft sind wir alle, die einem oder keinem Glauben anhängen, unzähligen anderen Gottheiten gegenüber Ketzer. Wollten wir die Essensregeln sämtlicher Konfessionen einhalten, um die religiösen Gefühle aller verschiedenen Gottesstreiter nicht zu verletzen, müssten wir wohl glatt verhungern. Eine ökumenische Nulldiät, denn alles ist irgendwem tabu.

Den öffentlichen Raum den Geboten des Sakralen zu unterwerfen führt zur Theokratie. Die Mörder werden in einer Welt des Internets und der Globalisierung immer diejenigen finden, die gegen irgendeines ihrer vielen Verbote verstoßen. Ihnen nachzugeben ist nicht Toleranz, sondern Kapitulation.

Während der Fundamentalist die säkulare Gesellschaft bedroht, gibt es aber auch jene, die im Namen der Aufklärung den sakralen Bereich der anderen stören wollen. Sie rücken der religiösen Minderheit auf die Pelle. Das Kopftuch muslimischer Frauen wird zur Hauptfrage für die Kreuzritter des Abendlandes. Das Schächten beschäftigt besonders jene, denen im Bierzelt die Wurst der Massentierhaltung und der Schlachtfabriken saugut schmeckt. Sie betreiben Religionskritik, doch nur auf Kosten des jeweils anderen Glaubens. Das Gerede von der Toleranz erleichtert den Mangel an Toleranz und die Gewissheit, die Intoleranz sei alleinig die Eigenschaft der anderen.

Wenn die Jury mir diesen Preis zugesteht, ist es im Grunde sie, die Toleranz beweist, da ich zumeist von den Grenzen der Duldsamkeit rede. Aber ich weiß mir halt keinen besseren Weg, das Recht des Individuums zu verteidigen, als die Toleranz der anderen zu strapazieren.

Zuweilen meinen manche meiner Freunde, die so ungläubig und atheistisch sind wie ich, die Welt wäre besser, gäbe es gar keine Religionen mehr. Ich wundere mich, wieso sie – trotz der historischen Erfahrungen – nicht merken, welche gefährliche Versuchung totalitärer Art in diesem Gedanken liegt. Nicht nur, weil nicht wenige Fromme liberaler sind als manche Säkulare. Ich frage mich vielmehr, woher sie die Hoffnung nehmen, alles Irrationale wäre überwunden, wenn es nur endlich keine Geistlichen mehr gäbe. Es braucht nicht unbedingt einen Gott, um zum Fundamentalisten eines Glaubens zu werden, der alle Unbekehrten und alle Renegaten liquidieren will.

Vielleicht ist das, was von der einstigen Idee der Toleranz bleibt, nachdem viele ihrer Aspekte verrechtlicht und mit gutem Grund durch Gleichberechtigung, Menschenrechte, Antidiskriminierung, Verhetzungsverbot und Minderheitenschutz ersetzt wurden, der Zweifel an der eigenen Weltanschauung und die Verteidigung der Vielfalt als Prinzip. Das ist nicht nur die Einsicht, nicht in allem übereinstimmen zu müssen, sondern der Gedanke, die Verschiedenheit sei ein Wert an sich, wobei die Debatte über die richtigen Antworten dadurch nicht beendet, sondern im Gegenteil erst angeregt und angereichert wird.

Das Schreiben und das Lesen helfen mir bei dieser Relativitätstheorie des eigenen Denkens, denn mit der Literatur übe ich mich im anderen Blick, weite ich mein Gesichtsfeld, indem ich die Perspektive mehrfach wechsle und von einer Figur in die nächste schlüpfe. Die Bücher schärfen meine Sicht. Das Motto lautet: Liebe deinen Widerspruch wie dich selbst.

Wer heute "Nathan, der Weise" liest, könnte meinen, Lessing sei ein Mann der Harmonie gewesen. Ganz im Gegenteil! Im Jahre 1778 wurde Lessing, der damals beinah schon als Klassiker des deutschen Theaters galt, binnen weniger Monate zum Staatsfeind. Als Leiter der herzoglichen Bibliothek von Wolfenbüttel hatte er sich in eine Debatte mit dem Hamburger Hauptpastor Julius Melchior Goeze verstrickt. Lessing wurde hierauf vom Herzog die Zensurfreiheit aberkannt. Er durfte zu religiösen Fragen nicht mehr publizieren. Das Stück "Nathan, der Weise" war seine Antwort. Lessing meinte einst: "Ein kritischer Schriftsteller (…) suche sich nur erst jemanden, mit dem er streiten kann: so kömmt er nach und nach in die Materie, und das übrige findet sich." Er schrieb, das Publikum "scheinet vergessen zu wollen, daß es die Aufklärung so mancher wichtigen Punkte dem bloßen Widerspruche zu danken hat, und daß die Menschen noch über nichts in der Welt einig sein würden, wenn sie noch über nichts in der Welt gezankt hätten".

Diesem Leitspruch will ich gerne folgen, zumal ich gar nicht anders kann. (Doron Rabinovici, Album, 13.11.2015)