Die Ersten, die auf dem Mond landeten, waren nicht die Amerikaner, sondern die Schweden: Im Spiel "Zum Mond und retour" (1962/63) schickte Stockholm Raumschiffe auf exzentrische Bahnen.

Illustration: Nordiska Museet, Stockholm / Brandstätter-Verlag

Ernst Strouhal: "Die Welt im Spiel. Atlas der spielbaren Landkarten". € 59,-/ 224 Seiten, 100 Abbildungen (= Bd. 5 der Schriftenreihe Passagen des Spiels der Universität für angewandte Kunst, Wien). Christian-Brandstätter-Verlag, Wien 2015

Foto: Brandstätter-Verlag

Es gibt Bücher und Bücher. Es gibt Bücher, die mit ihrem Erscheinen das Medium des Buches neu erfinden, indem sie es transformieren und mit anderen Medien verschmelzen, ohne sich in ihnen zu verlieren. Ernst Strouhals Die Welt im Spiel ist ein solches Buch. Sein Untertitel Atlas der spielbaren Landkarten verrät bereits, in welche Richtung das Buch sich selbst überschreitet: Die in ihm versammelten Landkarten sind nicht nur lesbar, sondern auch spielbar. Landkarten sind sie im buchstäblichen und im metaphorischen Sinn – als Karten geografischer und imaginärer Räume.

Durchgehend Raritäten

Das Buch ist in jeder Hinsicht größer, als es sich auf den ersten Blick gibt. Gedruckt im Format 24 x 32 cm, besteht es aus zwei Teilen, die durch den Bucheinband miteinander verbunden und vollständig geöffnet beinahe einen Meter breit sind. Der rechte Teil enthält doppelseitige Reproduktionen von Brettspielen, der linke deren Dokumentationen, Spielregeln und Kommentare. Dieser gesamte linke Teil lässt sich aus dem Bucheinband herausklappen und ebenfalls doppelseitig neben dem rechten öffnen. Der wiederum, deutlich dicker, ist in offener Fadenbindung gebunden, die ein vollständiges Aufschlagen der Doppelseiten ermöglicht. Diese werden dadurch zu Spielbrettern.

Die Spiele lassen sich so nicht nur studieren, sondern auch spielen. Sie stammen aus Europa, Nordamerika und Japan vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. Viele davon waren einst populär und sind heute vergessen. Durchgehend handelt es sich um Raritäten, zusammengetragen und zur Verfügung gestellt von leidenschaftlichen Sammlerinnen und Sammlern, von Museen und weiteren Institutionen rund um die Welt, deren Namen in der Danksagung und im Bildnachweis genannt sind. 63 Spiele sind es, eine Anspielung auf die Anzahl der Felder im klassischen Gänsespiel, dessen Form die meisten dieser Spiele haben.

Die Gliederung

Strouhal hat aus ihnen fünf Gruppen und das heißt hier zugleich auch fünf Kapitel gebildet, deren gemeinsames Element die Reise oder allgemeiner noch eine bestimmte Form fortschreitender Bewegung ist: "Durch die Städte", "In ferne Länder", "Über Berg und Tal", "Durch Zeit und Raum", "Reise durchs Leben". "Der Motor der Bewegung ist der Würfel, der Zufall regiert, die Reise am Papier ist unwägbar wie das Leben selbst", heißt es im Vorwort.

Die inhaltliche Gliederung und formale Gestaltung verraten eine weitere Richtung der Selbstüberschreitung. Das Buch wird hier nicht nur zur Spielesammlung, sondern auch zum Ausstellungskatalog: auf der einen, rechten Seite die Ausstellungsobjekte, auf der anderen, linken die Begleittexte, die sich auch wegklappen lassen. Strouhal ist ein erfahrener Ausstellungskurator, der etwa die thematisch verwandte Ausstellung Spiele der Stadt. Glück, Gewinn und Zeitvertreib mitkuratiert hat, die 2012/2013 im Wien-Museum zu sehen war. Hier ist er Kurator einer Ausstellung, die so nicht stattgefunden hat und sich das Buch als alternativen Ausstellungsraum erschließt.

In diesem Sinne ist es eine kuratorische Entscheidung von großer Tragweite, die Auswahl und Reihenfolge der Ausstellungsobjekte mit einem Spiel zu beschließen, das den Titel "Die Reise ins Himmelreich" trägt. Wo der Zufall entscheidet, ob die Seele in den Himmel oder in die Hölle gelangt, ist der Ernst des Lebens infrage gestellt. Den Glücksspielern, denen Hieronymus Bosch in seinem Garten der Lüste ein eigenes, im Buch abgebildetes Höllenabteil reserviert hat, bleibt damit zugleich ein Funke Hoffnung. Nicht dieser ist es jedoch, der das Feuer der Spielleidenschaft anfacht: "Das Leben als Spiel betrachtet ist ein Leben in Immanenz", sagt Strouhal. Das heißt immer auch, es ist frei von jeglichem Zweck, dadurch jedoch nicht automatisch sinnlos.

Heraustreten aus dem eigentlichen Leben

Bei der Zweckfreiheit ist an die Analogie zu denken, die der Soziologe und Kulturtheoretiker Georg Simmel zwischen Kunst und Spiel beobachtet hat. Spiele haben etwas von jener Zweckmäßigkeit ohne Zweck, die Immanuel Kant zufolge die Schönheit auszeichnet. Vor allem bilden sie gegenüber dem Alltag eine eigene Sphäre. Wie der Kulturhistoriker Johan Huizinga in seinem Homo Ludens, einem Klassiker der Spieltheorie, sagt, ist das Spiel nicht das "gewöhnliche" oder das "eigentliche" Leben. "Es ist vielmehr das Heraustreten aus ihm."

Umso bemerkenswerter ist es, dass es Strouhal gelingt, die Spiele in jenes gewöhnliche Leben einzubetten, aus dem sie heraustreten. Seine luziden Kommentare und sein einleitender Essay erzählen wie im Vorbeigehen eine kleine, materialreiche Kulturgeschichte dieser Spiele.

Es waren, wie Strouhal betont, Spiele für Erwachsene, die spielerisch belehrten, aber auch um Geld gespielt wurden. Sie kommunizieren in vielfältiger Weise mit dem Alltag, den sie hinter sich lassen. Strouhals Buch hält, was sein Titel verspricht: Es verklärt nicht die "Welt als Spiel", sondern rekonstruiert in plastischer Weise die Spiele selbst und die Welt, die sich in ihnen zeigt. (Ingo Zechner, 15.11.2015)