Welche persönliche Verfassung braucht es, welcher bizarrer religiöser Rechtfertigungsstrategien bedarf es, um eine Kalaschnikow durchzuladen, mit ruhiger Hand zu zielen und mehrere Magazine auf ausgelassene, entspannte, völlig fremde Menschen leerzuschießen, die in einem x-beliebigen Café in Paris sitzen? Wie kann jemand, der sich angeblich um die schreiende Ungerechtigkeit in der Welt sorgt, über die Benachteiligung (der Muslime) verbittert ist und die Menschheit auf den richtigen Weg bringen will, so viel Böses tun und so viel Leid anrichten?

Diese Fragen lassen sich aus der Sicht der Opfer kaum rational beantworten. Aus der Sicht der Täter allerdings sind die eigenen Handlungen vernünftig, das Blutbad in gewissermaßen folgerichtig. Ihre Logik mag die des Extremismus und völlig pervertiert sein, aber sie ist zwingend: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.

Das hatte in Paris – ausgerechnet Paris – bereits vor langer Zeit eine Form des Schreckens hervorgebracht, die von frappierender Strukturähnlichkeit mit jener der jihadistischen Weltsicht von heute ist. Damals, um das Jahr 1789, nahm die Geschichte einen blutigen Lauf: vom absolutistischen Königtum zum von Robespierre ausgerufenen, absolut gesetzten Tugendgebot für das französische Volk, dessen Feinde im Staatsterreur, dem staatlich organisierten Schrecken, durch die Guillotine zu entleiben waren.

Alles oder nichts

Die Revolution fraß ihre Kinder. In Paris auf der Place de La Concorde, nicht weit von jenen Stellen, an denen an diesem Freitag die tödlichen Schüsse fielen, die Sprengstoffgürtel der Angreifer detonierten. Jakobiner und Jihadisten – beide Kinder jenes mörderischen Geistes, der die eigene Tugend, den eigenen Glauben, das eigene Ideologem außerhalb jeden Zweifels stellt. Ein Geist, der kein Leben will, sondern das alles oder nichts postuliert. Ein Geist, der vernichten will und der seine Jünger zu eifrigen Agenten des Nihilismus macht.

Argumentierte Maximilien de Robespierre, der selbst auf dem Schafott endete, unter weltlichen Gesichtspunkten und insbesondere mit Blick auf die Demokratie, stellen seine islamistischen Geistesverwandten auf die religiöse Dimension ab – und verursachen damit nicht nur verabscheuungswürdige Blutbäder, sondern begehen statt frommer Gottesfürchtigkeit die ultimative Blasphemie.

Sei es in Pariser Restaurants, sei es in Kenia in einem Einkaufszentrum oder einer Universität, sei es bei einer Friedenskundgebung im türkischen Ankara: Indem die Jihadisten völlig unbeteiligte Menschen ermorden, stellen sie sich über die Schöpfung des von ihnen so verehrten Gottes, über Gott im Namen des Glaubens.

Wer, wie die Attentäter von Paris, die eigene Weltanschauung, den eigenen Glauben, das eigene Handeln absolut setzt und jedem Begründungszwang außerhalb von Offenbarung und Erleuchtung entzieht, wer sich zum Herren über Leben und Tod aufschwingt, macht sich selbst zu Gott. Damit betreiben die jihadistischen Fanatiker genau das, was sie dem Westen bei allen Gelegenheiten wortreich vorwerfen: Sie treiben den absoluten Individualismus auf die Spitze – ohne göttliches Maß und ohne irdisches Ziel.

Ohne Maß und Ziel

Wer sich derart aller Zwänge entledigt und aller Verantwortung entzieht, dem mag es auch nicht mehr als verrückt oder zumindest verroht erscheinen, dutzende Menschen um ihr Leben zu bringen und deren Angehörige und Familien für alle Zeit zu traumatisieren. Wo die Perversion der Rechtschaffenheit normal wird, muss niemand mehr Anstoß daran nehmen, Menschen zu enthaupten, zu verbrennen, zu ertränken oder mit einem Sprengstoffhalsband in die Luft zu jagen.

So wie seiner Zeit Heinrich Himmler vor seinen SS-Schergen faseln konnte, dass es nicht einfach sei, neben Bergen von Leichen anständig zu bleiben, so können sich heute blutjunge Kämpfer des sogenannten "Islamischen Staates" neben Pritschenwagen stellen, auf denen ihre entstellten Opfer liegen. Sie haben keinerlei schlechtes Gewissen, sich mit abgeschnittenen Köpfen von "Feinden und Ungläubigen" zu präsentieren oder Kinder dazu zu bringen, Gefangenen in den Kopf zu schießen. Es ist ja für die gute Sache. Der Tod ist für Allah. Und für das tugendhafte, rechtschaffene und gottgefällige – Leben.

Was kann gegen diese Art des Terrorismus unternommen werden? Die nun erhobenen Forderungen, Feuer mit Feuer auszubrennen, mögen archaisch wirken. In einer zivilisierten, ja kultivierten Welt möge uns doch Besseres, Vernünftigeres einfallen.

Die Frage ist: Auf welche Logik wollen wir uns einlassen? Und haben wir überhaupt eine Chance, aus der aufgezwungenen, perversen Logik des Todes auszubrechen? Eine Antwort darauf zu geben, ist so schwierig wie kaum etwas anderes in diesen Tagen. (Christoph Prantner, 16.11.2015)