"Wenn man als Heranwachsender die Erfahrung macht, dass sich etwas formulieren lässt, was man gefühlt, aber noch nicht gedacht hat, kann dadurch eine Art heilende Distanz stattfinden": Elke Schmitter.

Amrei Marie/Wikimedia

STANDARD: Ein Leben ohne die Möglichkeit innerer Fluchten sei kaum denkbar, wer lese, sei schon weg, schreiben Sie in einem Essay über den Medienkonsum Ihres Sohnes. Sie haben in Wien Ihr erstes Kinderbuch vorgestellt, möchten also diesen Eskapismus im positiven Sinn des Wortes befördern?

Schmitter: Ja, ich meine tatsächlich, dass wir diesen Eskapismus brauchen, um nicht verrückt zu werden. Man muss zur Realität ein im Grunde dialektisches Verhältnis bewahren und sagen: Einerseits gibt es die Realität; und im Sprechen die Gewissheit, dass wir über dasselbe reden, wenn wir über Wien reden, oder über die Buchmesse, über den Islamismus, ein Attentat oder ein Kinderbuch. Andererseits aber benötigen wir das Möglichkeitsdenken, weil es uns in jeder Hinsicht gesund erhält. Es ist eine permanente psychische Arbeit, sich damit auseinanderzusetzen, wie es auch sein könnte, oder wie es hätte sein können. Wenn wir dieses sozusagen plastische Verhältnis zur Realität einbüßen, werden wir buchstäblich verrückt oder stupid.

STANDARD: Sie sagen in dem Essay, das Lebendige sei vordergründig reizärmer als die virtuelle beispielsweise durch Computerspiele vermittelte Wirklichkeit. Trotzdem fehlen im Virtuellen Geruch, Geschmack und Körperlichkeit.

Schmitter: Die Zeit, die wir mit Medien verbringen, steigt. Schon immer wurden bei der Einführung neuer Medien die gleichen Klagen erhoben, beispielsweise sie würden den Nutzer von der Realität entfernen, ihn emotional abstumpfen, falsche Phantasien befördern, die Geselligkeit und das Gesellschaftliche zerstören. Ich habe in dem Essay versucht, mich selbstkritisch zu fragen, was eigentlich der Unterschied ist, wenn ich ins Zimmer meines Sohnes komme und er "Huckleberry Finn" liest, oder eben ein Videospiel spielt – und warum ich so unduldsam auf letzteres reagiere. Es ging mir auch darum, die individuelle Verkarstung zu thematisieren, der wir alle unterliegen. Man heißt doch schon automatisch gut, womit man groß geworden ist, und beargwöhnt das Neue.

STANDARD: Also keine Abstumpfung und Reizüberflutung durch die Elektronik?

Schmitter: Man muss sich damit abfinden, dass das Buch als Medienträger zurückgestuft wird, andererseits bekommt es vielleicht auch wieder mehr Respekt, weil es bestimmte Eigenschaften hat, die durch kein anderes Medium trainiert werden. Sie merken, es fällt mir schwer, in den großen Abgesang einzustimmen. Ich glaube nicht wirklich an einen Verfall, zudem ist die Adaptionsfähigkeit unserer Gehirne größer als wir meinen. Ich sehe, dass Menschen, die zwanzig Jahre jünger sind, andere Kapazitäten haben mit Geräuschen und mit Schnitttechniken und Tempi umzugehen.

STANDARD: Sie kennen die Buchbranche als Autorin und Journalistin, was hat sich in den letzten 30 Jahren verändert?

Schmitter: Es zeichnet den Literaturbetrieb grosso modo aus, dass er sich – gerade wenn man ihn beispielsweise mit dem Kunstbetrieb vergleicht, wo kein Stein auf dem anderen blieb – relativ konservativ verhält. Es hat sich im Endeffekt wenig verändert, das Personal ist fast dasselbe geblieben, auch wenn es natürlich einen sanften Generationenwechsel gibt. Die Eigenschaften dieser Branche sind, dass es relativ wenig Geld zu verteilen gibt und viele Akteure gleichzeitig in mehreren Rollen unterwegs sind, zum Beispiel als Kritiker und Autor. Man kennt sich also ganz gut, und im Vergleich zu anderen Kunstsparten ist der Buchbetrieb immer noch ein relativ unnarzistisches, unhysterisches, sehr sozialdemokratisches Gewerbe. Wer sich, sagen wir in den Jahrgängen 1950 bis 1970 entschieden hat, vom Schreiben, vom Bücherverkaufen und Bücherproduzieren zu leben, konnte das gut tun. Da allerdings verändert sich etwas drastisch.

STANDARD: Indem etwa die Auflagenzahlen sinken, außer man ist ein Bestsellerautor?

Schmitter: Ja, die Zahlen gehen nach unten. Die "Spiegel"-Bestsellerliste wird nach real verkauften Büchern ermittelt, nicht etwa nach Bestellungen. Während man vor zehn Jahren, ich nenne jetzt irgendeine Zahl, sagen wir also, noch 10.000 Bücher pro Woche verkauft haben musste, um oben auf der Liste zu landen, reicht jetzt deutlich weniger. Das heißt, der Marktanteil von Büchern im Mediensortiment insgesamt nimmt ab. Anteilsmäßig werden am Kuchen die Stücke neu formatiert.

STANDARD: Wie sehen Sie die Bedeutung von Buchmessen?

Schmitter: Das Gute an Buchmessen ist, dass der Versuch unternommen wird, das Medium Buch in eine analoge Realität zu bringen, das gilt übrigens auch für Literaturfestivals, die andere neuronale Verknüpfungen bieten, um es einmal technisch auszudrücken. Zu einer Buchmesse kommen Branchenleute, Autoren, aber auch Familien mit Kindern, die sich Lesungen anhören. Man schafft mit Buchmessen Erreichbarkeit und andere Erlebnisse.

STANDARD: Sehen Sie die Buch Wien im deutschen Sprachraum als eine Bereicherung.

Schmitter: Absolut. Die deutschsprachige Literatur hat immer noch verschiedene Landschaften des Denkens. Man verbindet mit österreichischer Literatur etwas anderes als mit deutscher Literatur. Es sind verschiedene Tonarten, Themen und Bezüge, die anklingen und an einem Ort wie hier sichtbar werden.

STANDARD: Kommen wir noch einmal zum Lesen, Sie schrieben in "Fräulein Sartorius": Ein Roman kann vielleicht wie das Leben sein, aber das Leben ist kein Roman?

Schmitter: Wenn man als Kind oder als Heranwachsender die Erfahrung macht, dass sich etwas formulieren lässt, was man gefühlt, aber noch nicht gedacht hat, kann dadurch eine Art heilende Distanz und gleichzeitig eine Annäherung stattfinden. Das Vermitteln der Erfahrung etwa, dass eine unglückliche Liebe, die man mit dem eigenen Leben verbindet, eine allgemeine Repräsentanz hat, weil es andere ähnlich erlebten, ist doch beglückend – befeuernd und abkühlend zugleich, intensivierend und klärend. Was will man mehr von einem Medium.

Elke Schmitter (54) war nach ihrem Philosophie-Studium bei verschiedenen Medien tätig. 1992 bis 1994 war sie Chefredakteurin der "taz", seit 2001 ist sie Kulturredakteurin des "Spiegel". Daneben schrieb sie Gedicht-, Essay- und Prosabände, darunter den in 20 Sprachen übersetzten Roman "Fräulein Sartoris".

(INTERVIEW: Stefan Gmünder, 16.11.2015)