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Gilt noch immer als der "Normalfall": Vater, Mutter, Kind. Dabei finden sich schon im Alten Testament Familienerzählungen, in denen etwa gleichgeschlechtliche Liebe akzeptiert wird.

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Graz – Die Vorstellungen und Realitäten von Familie haben sich in den letzten Jahrzehnten enorm verändert. Das sei fast schon "ein Gemeinplatz", hieß es in der Ankündigung zu dem Symposium "Die Familie im Wandel", das kürzlich stattfand und vom Institut für Philosophie der Karl-Franzens-Universität Graz organisiert wurde. Forscherinnen und Forscher verschiedenster Disziplinen der Uni Graz widmeten sich dem Verhältnis von gesellschaftlichem Zusammenhalt und der größer werdenden Vielfalt der familiären Lebensformen – einer Vielfalt, die an sich nicht unbedingt neu ist, ihre Sichtbarkeit hingegen schon.

Mit diesen gesellschaftlichen Herausforderungen setzte sich zuletzt die katholische Kirche in ihrer Familiensynode auseinander, denn auch gläubige Katholiken und Katholikinnen lassen sich die zunehmenden Möglichkeiten zur Diversität nicht mehr nehmen. Das Nachdenken über Fortpflanzungstechnologien, Alleinerziehende oder gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften änderte aber nichts daran, dass das Ideal der Kleinfamilie, bestehend aus einem heterosexuellen Ehepaar mit Kindern, bleibt. Auf die Bibel kann man sich mit diesem Ideal allerdings nicht berufen.

Irmtraud Fischer stellte beim Symposium ihre Untersuchungen zu Familienbildern in der Bibel vor, die alles andere als heilig waren. "Ein überhöhtes Ideal nimmt die Realität nicht zur Kenntnis, aber genau das ist im Alten Testament absolut nicht der Fall", sagt die Theologin im Gespräch mit dem STANDARD. "Familie ist die Grundeinheit einer Gemeinschaft, und anhand dieser werden allgemeingültige Dinge einer Epoche dargestellt", sagt sie.

Das Ideal Enthaltsamkeit

Polygynie, Inzest oder Konflikte verschiedenster Art – das Alte Testament berichtete im Detail davon. Familie war ein Clanverband, der vom jeweils ältesten Sohn geführt wurde und mehrere Kleinfamilien in sich vereinte. Diese familiale Organisation wurde durch das frühe Christentum torpediert, erklärt Fischer: Während man im Alten Testament durch die Geburt in das Gottesvolk integriert wurde, zur Jüdin oder zum Juden wurde, braucht es im Christentum die von der Familie unabhängige Selbstentscheidung durch die Taufe.

Auch die sexuelle Enthaltsamkeit wurde nun überhöht und hochstilisiert. Eine für Frauen attraktive Veränderung, so Fischer, weil sie erzwungenen Ehen nun durch ein eheloses Leben entgehen konnten.

Vor dem 19. Jahrhundert gab es die Kleinfamilie nicht, und vor Rousseau auch nicht die Überhöhung des Kindes. Es ist also eine relativ junge Vorstellung von Familie, die da noch immer als der "Normalfall" gehandelt wird. "Die Bilder der romantischen Familie wurden zur Vorlage für die bürgerliche Familie, auch die Arbeiterfamilie sollte sich alsbald danach ausrichten – inklusive aller Probleme", zeichnet Fischer einen Teil der jüngeren Entwicklungen nach.

Im Alten Testament fänden sich hingegen genügend Gegenpole zu diesem Bild. "Familie ist historisch variabel, die längste Zeit war sie eine wirtschaftliche Solidargemeinschaft, die durch Verwandtschaftsbande zusammengehalten wurde."

Aber auch gleichgeschlechtliche Lebensweisen kamen vor. Zum Beispiel im Buch Rut: Darin bindet sich eine Frau unauflöslich an eine andere. Deren Verbindung akzeptiert sowohl der neue Ehemann als auch die Öffentlichkeit der Stadt, wenn am Ende konstatiert wird, dass Rut ihren Sohn nicht für ihren Mann, sondern für ihre Schwiegermutter, die sie liebt, gebiert. Es gäbe durchaus Bibel-Referenzen, anhand deren das aktuelle Familienbild überdacht werden könnte, "wenn man nur wollte", ist Fischer überzeugt.

Einfluss sozialer Medien

Praktisch ganz am anderen Ende des Spektrums setzt Silvia Schultermandl an. Die Literaturwissenschafterin referierte beim Symposium über den Einfluss sozialer Medien auf globalisierte Verwandtschaftsverhältnisse. So ermöglicht der Austausch einer über mehrere Länder verstreuten Familie über Facebook auch Untersuchungen über Community-Building.

"Durch die schriftlichen Reaktionen auf einen gelesenen Text bieten diese Medien eine neue Ebene, auf die die Literaturanalyse bisher nicht zurückgreifen konnte", führt Schultermandl aus. "Anhand des Responses auf Nachrichten können wir Überlegungen dazu anstellen, inwieweit man das Gefühl des Zusammenhalts im weitesten Sinne auch mit einem bestimmten Gefühl von Familienzusammenhalt assoziieren kann".

Familienbande digital

Bisher konnte in der Literaturwissenschaft nur erahnt werden, was eine Person denkt, wenn sie einen Brief liest. Soziale Medien ermöglichen auch neue Formen familialer Strukturen, die ohne diese digitalen Netzwerke womöglich gar nicht entstehen würden. Auch tauchen in dieser relativ neuen Art der Kommunikation immer wieder sehr grundsätzliche Fragen zum Konzept Familie oder Rollenverteilungen auf: Was heißt Mutterschaft, was Vaterschaft? Dazu kommt es mitunter innerhalb einer Familie, in der ein Elternteil woanders lebt und arbeitet als der andere samt Kindern, dazu, dass der Kontakt auch über soziale Medien gepflegt wird.

Transnationale Familienkonstellationen, die etwa durch Migration entstehen, müssen ihre Beziehungen auf die Online-Ebene mit Skype, Twitter oder Facebook verlagern und dort pflegen. So wird diese Form des Zusammenhalts nicht nur sichtbarer, sondern auch weitaus ausführlicher als zu Zeiten, da noch das Telefon die einzige Möglichkeit des direkten Gesprächs war.

Dazu fällt Schultermandl der Bericht des israelischen Schriftstellers Amos Oz aus den 1950er-Jahren ein, dessen Familie über Kanada und Israel verstreut war. Als die Familie nach komplizierten Terminvereinbarungen endlich zu dem gemeinsamen Telefonat zusammentrifft, ruft man sich am Telefon lediglich "We love you!" zu, legt dann aber gleich wieder auf. "Neben den hohen Kosten war es nach diesem langen Vorlauf einfach zu überwältigend, Smalltalk brachte man in diesem Moment absolut nicht zustande."

So ein Beispiel würde sich heute nicht mehr finden, weil das Gefühl ständiger Erreichbarkeit vorherrsche. Interessant findet Schultermandl auch die Frage nach dem riesigen visuellen Archiv, die beim Symposium aufgetaucht ist: Unmengen an Fotos werden gepostet, hin und her geschickt, jeder Entwicklungsschritt eines Kindes kann mit weit entfernten Verwandten geteilt werden. "Das ist ein sehr eindrücklicher Kontrast zu den wenigen Familienfotos, die früher in vielen Haushalten fast ein kleines Heiligtum waren." (Beate Hausbichler, 22.11.2015)