Weniger als eine Woche genügte nach den Attentaten von Paris, um die Identität aller Opfer, aber auch ihrer Mörder zu kennen. Eine Woche, während deren ich mich wie alle Pariser an gewisse Bilder habe gewöhnen müssen. Soldaten in Militärmontur in der U-Bahn, Autos mit heulenden Sirenen, Polizisten mit Sturmgewehren im oberen Stock der Buchhandlung FNAC mit ihren Regalen voll von Büchern über Islam und Jihadismus. Passiert das wirklich bei uns?

Ja, und sogar bei mir, die ich seit zwanzig Jahren im zehnten Arrondissement wohne, nordöstlich der Seine, in einem der beiden jungen und trendigen Bezirke – der andere ist der benachbarte elfte -, wo die islamistischen Attentäter am 13. November eine Spur von Blut, zerfetztem Fleisch und Gehirnsubstanz hinterließen.

Der zehnte Bezirk – das Dreieck zwischen Barbès, Strasbourg-Saint-Denis und dem Platz der Republik – ist derjenige "wo unsere Stadt sich am treuesten geblieben ist", schreibt in Le Monde Thomas Clerc, der Autor von Paris, musée du XXIème siècle (eine Anspielung auf Walter Benjamin) und Liebhaber der Gegend. Rund um die Place de la République findet man noch die Seele des Paris des 19. Jahrhunderts, während sich manche Pariser Bezirke in Museen verwandelt haben.

Seit 15 Jahren ist die nordöstliche Seite, neben dem Canal Saint-Martin, unwiderruflich "bobo" (bourgeois-bohême) geworden. Aber auf der Seite der Rue du Faubourg-Saint-Martin – meine Straße – hat der zehnte Bezirk noch ein sozial und kulturell gemischtes Gesicht, das sich stets mit den Tendenzen der Wirtschaft verändert hat. Mitte der 1990er-Jahre etwa war die Gegend ganz im Zeichen der Kinderkleidung, mit unzähligen Werkstätten, wo man fleißig an Nähmaschinen arbeitete – meist unter Bedingungen, die von dem, was das offizielle Arbeitsrecht vorschrieb, weit entfernt waren.

Asien und Afrika

Die Arbeiter, die auf den Trottoirs Kleidungsbündel herumkarren, stammen heute wie einst aus Sri Lanka, Pakistan oder Bangladesch, ihre Feste werden in bunten Zügen auf der Straße zelebriert, während chinesische Prostituierte bei der Kreuzung Strasbourg-Saint-Denis auf Kunden warten und die schwarzafrikanischen Friseure die Rue du Château d'Eau besiedelt haben.

Seit einem Jahr beobachte ich bei jedem Aufenthalt die Fortschritte der Gentrifizierung meiner Gegend. Kaum ein Monat vergeht, ohne dass eine Boutique, ein Restaurant, ein schickes Lebensmittelgeschäft öffnet, wo junge Leute ihre E-Mails abrufen und mit der anderen Hand vegetarische Tapas essen.

Ganz in der Nähe rufen in den Internetcafés die asiatischen und afrikanischen Arbeiter ihre auf anderen Kontinenten zurückgebliebenen Familien an. Sie können es sich nicht mehr leisten, im Bezirk zu wohnen. Aber ihre Präsenz im alltäglichen Leben gibt den "Bobos" – ich bin eine davon, wie viele Pariser Journalisten – das Gefühl, im Zentrum eines kulturellen Meltingpots zu leben, weit weg von der traditionsbewussten Bourgeoisie oder von der provinziellen "weißen" Bevölkerung, die Front National wählt. Eine Art moralischer Bonus. Eine angenehme, aber trügerische Illusion.

Denn die Attentate vom 13. November haben zwei Seiten unserer Welt aufgedeckt – die eine sympathisch, die andere schrecklich. Auf der einen Seite kreative, offene Menschen, die sich in die globale Wirtschaft gut eingefügt haben, für die gesammelte Flugmeilen das sicherste Zeichen des sozialen Erfolgs sind. Auf der anderen Seite verzweifelte und kaltblütige Menschen, zum Selbstmord bereit, die in ihrer Art auch den "hypermobilen Menschen" im Sinne eines Jacques Attali verkörpern: Wie ihre Opfer genauso "connected" und agil im Internet, weichen die Terroristen jede Grenze auf und haben keine anderen Wurzeln mehr als ein mythisches Kalifat.

Für den Philosophen Bernard Stiegler, Denker der digitalen Gesellschaft, sind diese Attentäter kaum religiös. Ihre Radikalisierung wächst auf den Ruinen des Ultraliberalismus, an dessen Spitze sich die "vier Reiter der Apokalypse" befinden: Google, Apple, Facebook und Amazon. Diese riesigen Firmen, die in hohem Tempo eine digitale Wirtschaft und die künstliche Intelligenz vorantreiben, werden Millionen Arbeitsplätze vernichten – diejenigen unserer Kinder. Das kann nur zum Krieg führen, sagt Stiegler, solange wir nicht eine andere Wirtschaft erfinden, eine, die nicht jede Hoffnung nimmt. (Joëlle Stolz, 20.11.2015)