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Auf dem Place de la République haben sich am Freitagabend ein paar hundert Pariser und Pariserinnen versammelt

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Sie wollten zum Ausdruck bringen, dass sie keine Angst ...

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... und ihre eigene Antwort auf den Terror haben

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Nämlich Zusammenhalt und Solidarität

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Im Gedenken an die Opfer von Paris

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Paris – Wenn das Pariser Volk nicht mehr rebelliert, nicht mehr mit gereckten Fäusten demonstriert – dann stimmt etwas nicht mehr. Im Jänner waren nach den Charlie-Hebdo-Anschlägen (17 Tote) vier Tage später allein in Paris weit über eine Million Menschen auf die Straße gegangen. Jetzt sind 130 Opfer zu beklagen – und die Hauptstädter ducken sich vor dem nächsten Schlag, hängen noch in den Seilen, pausieren. Auch Hemingways Leitspruch, Paris sei ein Fest, bittet um Auszeit.

Am Freitagabend versammelten sich ein paar hundert Pariserinnen und Pariser auf der Place de la République, um "erst recht" zu feiern, oder wie ein freischaffender Künstler namens Antoine sagte, "um zu zeigen, dass wir uns von den Terroristen nicht unterkriegen lassen". In Paris läuft zufällig gerade "Résiste" (widerstehe!), das Programm der Chanson-Sängerin France Gall, benannt nach einem ihrer größten Erfolge.

Museen bleiben halbleer

Die Show wurde trotz der Anschläge beibehalten. Ausverkauft ist sie mitnichten. Museen, Kinos, Theater bleiben in Paris halbleer. Wie auch die Pariser Hotels. Beim Weihnachtsmarkt auf den Champs-Elysées werden noch mehr Überwachungskameras angebracht, noch mehr Wachpersonal angeheuert. Eine Kinderladenkette hat die Plastikpistolen aus dem Sortiment gestrichen.

Zugenommen haben hingegen die Verkehrsstaus um Paris: Die Pendler fahren nicht mehr mit dem Vorortszug zur Arbeit, sie fühlen sich in ihrem Wagen sicherer. Abends schlucken sie Schlafmittel: Deren Konsum hat offenbar sprunghaft zugenommen.

Getroffenes Volk

Ja, diesmal hat es das Pariser Volk wirklich getroffen. Denn jetzt sind nicht vorgewarnte Satiriker, Juden oder Polizisten getroffen worden, sondern unbeteiligte Normalbürger, junge Konzertbesucher und Bistrobesucher, die eiskalt und methodisch niedergeschossen wurden, im Bataclan wie in einer Massenhinrichtung.

Am vergangenen Wochenende war die Spannung in der Stadt so groß, dass die Passanten im Marais-Viertel wegen einer zerplatzten Birne in einem Bistro in panischem Schrecken davonrannten. Seither geht es Schlag auf Schlag.

Am Mittwoch konnten die Franzosen live die Kriegsszenen des Sturmangriffs auf eine Terroristenbude in Saint-Denis mitverfolgen. Am Freitag wurde das von der Air-France-Besatzung benützte Luxushotel Radisson in der französischen Ex-Kolonie Mali angegriffen (mindestens 21 Tote). Am Samstag war das frankophone Brüssel, nicht einmal eineinhalb TGV-Stunden von Paris entfernt, in höchster Alarmbereitschaft.

Paris in Angst

Ja, die Angst hält Paris in ihren Klauen. Der Selbstmordanschlag war für Frankreich ein Novum, wie schon im Juni die Enthauptung eines Unternehmers zwischen Lyon und Greboble. Das kannte man bisher nur aus dem Fernen Osten. Premierminister Manuel Valls fragt sich gar öffentlich, ob die Terroristen bald chemische oder biologische Waffen einsetzen könnten. Zur Sicherheit trinken viele Franzosen kein Leitungswasser mehr.

Wie selbstverständlich, und in seltener politischer Einmütigkeit, hat das Parlament diese Woche den nationalen Ausnahmezustand bis im Februar verlängert. Die Folgen sind einschneidend. Salafisten und andere Radikalislamisten können nun mit Hausarrest belegt, ihre Papiere beschlagnahmt und ihre Computerspeicher kopiert werden. In mehr als hundert Fällen geschah dies offenbar schon; Genaues erfährt die Öffentlichkeit nicht. Sie stellt nur fest, dass hier eine Moschee geschlossen wird, dort ein Gebetsraum versiegelt.

Dienstwaffe rund um die Uhr

Selbst einfache Dorfpolizisten sind nun angehalten, ihre Dienstwaffen rund um die Uhr bei sich zu haben. Nur der Antiterrorplan Vigipirate wurde nicht erhöht – er ist seit Jänner bereits auf der höchsten Stufe (alpha rouge). Trotzdem scheinen die Dreierpatrouillen von Soldaten in Tarnanzügen und mit geschultertem Sturmgewehr in den Pariser Bahnhöfen noch zahlreicher geworden zu sein.

Man muss es sich vergegenwärtigen: Im Herzen des demokratischen Europa herrscht Ausnahmezustand, mit Polizeivollmachten, die nicht einmal mehr von der Justiz kontrolliert werden. Präsident François Hollande spricht ohne Unterlass von "Krieg". Der Sozialist sei "zweifellos der militaristischste und Bush-ähnlichste Präsident, den Frankreich in den letzten zwanzig Jahren gekannt hat", meint der Politologe Marc-Antoine Pérouse de Montclos vom französischen Institut für Geopolitik.

"Es gibt Tausende, die Frankreich hassen"

Der Vergleich hinkt. Die Franzosen sind nicht revanchelüstern wie die Amerikaner nach "Nine Eleven". Ihnen steht der Sinn nicht nach einem "Patriot Act" à l’américaine; sie wollen weder Guantanamo, Waterboarding noch eine neue Irakkriegslüge, die alles nur noch verheerender machen würde. Der Ausnahmezustand setzt die demokratischen Mechanismen Frankreichs nicht außer Kraft, er sucht sie im Gegenteil abzusichern und zu retten gegenüber den jihadistischen Chaos-Verbreitern.

Das Arge daran ist eher, dass sich diese Terrorbruderschaften der Merahs, Kouachis und Abdeslams nicht allein sind. "Es gibt Tausende, die Frankreich hassen", meint der Islamkenner Gilles Kepel. In der so genannten S-Karteikarte des französischen Geheimdienstes, in der 11 500 gefährliche oder gewaltbereite Personen figurieren, sind 4000 Radikalislamisten. In der Fiche war nicht einmal Hasna Ait Boulahcen, die Cousine des Pariser Chef-Attentäters. Sie war ein Partygirl, trank Alkohol, trug Jeans und die Haare offen, galt als leicht labil – und mutierte binnen wenigen Monaten zur Terroristin. Ein Nachbar erklärte den Journalisten lachend, nein, Hasna habe nie nur auch einen Buchstaben des Koran gelesen.

Das macht es nur noch ärger. Denn es bestätigt, dass es ein riesiges Reservoir aus Banlieue-Jugendlichen gibt, die sich über Nacht in brandgefährliche Jihadisten verwandeln können. Die über Nacht zuschlagen können. Frankreich wird sich dessen erst gerade bewusst. Das ist wohl der Hauptgrund für den zunehmenden Absatz von Beruhigungsmitteln. (Stefan Brändle, 21.11.2015)