STANDARD: Das derzeit dominierende Thema ist die Flüchtlingskrise. Sollten sich Philosophinnen und Philosophen öfter in den gesellschaftspolitischen Diskurs einbringen bzw. haben sie einen gesellschaftlichen Auftrag?

Bussmann: Absolut, ich finde, sie tun es viel zu selten. Das bewundere ich zum Teil an Frankreich, da haben die Philosophen eine ganz andere Stellung. Wenn da Talksendungen sind, sind nie der Bischof oder Kirchenvertreter da, sondern die Philosophen. Das hat natürlich eine Geschichte, aber ich finde, dass sich die Philosophen auch in Österreich und Deutschland stärker – viele tun das ja auch schon – an diesen Diskursen beteiligen sollten. Wir haben einen großen Erfahrungsschatz an Ideen und Methoden, die uns helfen können, diese Fragen anzugehen. Harald Welzer, ein Sozialpsychologe, hat das Buch Selbst denken. Anleitung zum Widerstand geschrieben. Er sagt, was wir heute brauchen, ist gar nicht so sehr Wissen. Wissen haben wir genug, was uns fehlt, sind Unterscheidungskriterien, die Fähigkeit, bei allem zu unterscheiden, was sind gute Gedanken, was schlechte, wo sind zugrunde liegende Prinzipien, die uns vielleicht weiterhelfen.

"Es gibt nur ein einziges Gut für den Menschen: die Wissenschaft. und nur ein einziges Übel: die Unwissenheit", sagte der antike Philosoph Sokrates (469 bis 399 v. Chr.)
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STANDARD: Philosophinnen und Philosophen sollten oder könnten also die Gesellschaft die Kunst der Differenzierung lehren, zumal die Politik meist eher holzschnittartig agiert?

Bussmann: Ja, es ist auf der einen Seite die Kunst der Differenzierung, auf der anderen Seite aber auch die Fähigkeit, grundsätzlich zu werden. Das heißt, welche grundsätzlichen Fragen müssen wir uns eigentlich stellen? Im Grunde geht es, wenn wir etwa bei der Flüchtlingsfrage sind, um die Frage, wie wollen wir leben? Genauso auch, wenn es um unser Verhältnis zur Umwelt, zu den Tieren, den digitalen Medien oder zur Bildung geht. Wie wollen wir leben? Philosophen könnten da helfen, weil sie solche Fragen stellen. Da sind sie dann auch Störenfriede, weil sie unbequeme Fragen stellen.

STANDARD: Mit der Flüchtlingsfrage taucht auch immer wieder die "Wertefrage" auf. Es soll "Wertekurse" für Asylwerber geben. Wie soll sich die Gesellschaft darüber verständigen bzw. was sind denn "unsere Werte"?

Bussmann: (lacht) Das ist genau die Frage, der ich mich jetzt mal enthalte. Ich möchte sagen, wie man das sehen kann. Wenn Flüchtlinge in unser Land kommen, haben sie sich erst mal an unsere Gesetze zu halten. Das ist unabhängig von der Wertefrage. Ich werde auch oft gefragt, wie sich Lehrer in der Schule zu verhalten haben, wenn dort jemand prügelt usw. Da muss ich doch Werte vertreten, heißt es dann. Ja, natürlich, dem Grundgesetz bin ich verpflichtet. Die Philosophie ist zunächst einmal sicher den Menschenrechten verpflichtet, aber die Frage ist, sind diese Werte dann, so wie es beispielsweise in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung steht, selbstevident? Sind sie nicht. Vieles muss verhandelbar bleiben. Bevor man sich da auf einen Konsens einigt, sollte man erst einmal in die Arena der guten Gründe gehen und schauen, was sind Werte, auf die wir uns alle einigen können. Oft wird da ein Schritt übersprungen, indem schon Werte zugrunde gelegt werden, die im Grunde gar nicht mehr verhandelt werden.

STANDARD: Kann man daraus auch ein Argument für Philosophieunterricht in der Schule ableiten – heute vielleicht mehr denn je?

Bussmann: Ja, die Lebenswelt, in der wir heute leben, ist nicht nur sehr komplex und unübersichtlich, sie verlangt nach Orientierung. Orientierung gibt ein Reflexionsfach wie die Philosophie, die sich immer mit der Komplexität der Fragen beschäftigt hat. Nicht nur die Flüchtlingsfrage, auch die Globalisierung, das Verhältnis von Mensch und Umwelt, wovon die Klimakatastrophe nur ein Aspekt ist – das sind alles originär philosophische, natürlich auch ethische Fragen. Und wenn ich Philosophie sage, meine ich immer Philosophie einschließlich Ethik.

STANDARD: Warum diese Betonung?

Bussmann: In Österreich wird ja schon lange versucht, Ethikunterricht einzuführen. Dafür bin ich natürlich auch, aber ich glaube, wir brauchen einen umfassenderen Philosophieunterricht, weil noch viele andere Fragen, die der Ethikunterricht nicht primär abdeckt, auftauchen. Wir leben in einer wissenschaftlichen bzw. wissenschaftsorientierten Welt, in der viele Erkenntnisse über empirische Methoden gewonnen werden. Dazu müssen wir bei den Schülerinnen und Schülern Kompetenzen fördern, die sie befähigen, das zu verstehen, aber auch zu hinterfragen. Wir sollten wirklich sokratische Störenfriede heranziehen und in die Gesellschaft entlassen. Das wollen die Schülerinnen und Schüler auch. Darum ist die Einführung eines Pflichtfachs Philosophie überfällig, möglichst ab der fünften Schulstufe, und dieses soll auch mit dem Fach Psychologie besser verzahnt sein als bisher.

Bettina Bussmann lehrt an der Universität Salzburg Philosophie und pocht auf ein Pflichtfach Philosophie für alle Schülerinnen und Schüler ab der fünften Schulstufe.
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STANDARD: Und was sollen diese "sokratischen Störenfriede" dann können?

Bussmann: Das fängt damit an, dass man Phänomene wahrnimmt – an sich selber und an anderen. Hinschauen, was geht eigentlich vor. Diese Wahrnehmung muss heute, auch bedingt durch die hauptsächliche Konzentration auf Smartphone und Computer, geschult werden. Dann geht es darum, dass man sich mit anderen Menschen auseinandersetzt, in einen Dialog geht, der getragen sein soll durch Respekt und gute Gründe, die wir haben, um unsere Meinung zu vertreten. Der Philosophieunterricht ist prädestiniert für diese Denk- und Argumentationsschulung.

STANDARD: Inwiefern ist er das?

Bussmann: Wir brauchen vor allem einen konfessionsungebundenen, weltanschaulich neutralen Unterricht. Wir brauchen einen Ort, wo wir uns in einem Gespräch über die Werte, die wir haben oder haben sollten, und die Frage, wie wir eigentlich leben wollen, auseinandersetzen müssen. Sokratische Störenfriede sind die, die in diesen Dialog gehen, die nicht nur sich selber kritisch befragen, sondern auch die anderen Menschen und das System, in dem sie leben, die mutig sind, Fragen zu stellen. Ich habe ein bisschen das Gefühl, wenn ich an Immanuel Kants Spruch "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen" denke, es fehlt der Mut, das zu tun. Diesen Mut kann man aber fördern, indem man einen Ort schafft, wo das getan wird.

STANDARD: Interpretiere ich Sie richtig, Philosophie für alle Schülerinnen und Schüler wäre Ihnen fast wichtiger als Ethik, weil die Auseinandersetzung mit Wissenschaft in unserer Gesellschaft dringlicher ist als die mit Religionen bzw. Glaubensfragen?

Bussmann: Ich würde sagen, beides ist sehr wichtig. Ja, Ethik ist längst überfällig, und es passiert so gut wie nichts. Deshalb sage ich Philosophie, weil ich ein Fach möchte, das nicht von vornherein einen Konsens auf bestimmte Werte vornimmt. Man muss darüber reden, wie sich Ethik- und Philosophieunterricht, gerade, was die Wertefrage angeht, zu verhalten haben. Oft sieht es doch so aus, dass man bestimmte Werte nicht zur Debatte stellt, also dass es manchmal doch unter der Hand eine Form von Gewissensschulung ist. Das sollte es nicht sein. Das nennt man Indoktrinations- oder Überwältigungsverbot bzw. Neutralitätsgebot. Darüber muss man reden, und da finde ich Philosophie einen besseren Begriff, weil er umfassender und neutraler ist. Zusätzlich behandelt die Philosophie aber auch die immer dringlicher werdende Frage, was die wissenschaftlichen Methoden und Ergebnisse für unsere Erkenntnis und unser Leben leisten.
(Lisa Nimmervoll, 24.11.2015)