Alles Samt in diesem Herbst: Mode von Armani und Gucci (Mitte und rechts) und dazwischen Stiefel von Dries Van Noten. Das Sofa hinten ist von Maxalto by B&B Italia, rechts der Beetle Chair von Gubi.

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Pflegeleicht ist er ganz und gar nicht – eher zickig, nachtragend und schwer zu bändigen. Und bei starker Beanspruchung fallen ihm die Fädchen aus: Samt ist sicherlich kein praktisches Gewebe – noch dazu war es lange als bieder verschrien. Jetzt aber gibt es kein Entrinnen. Die internationalen Modehäuser rollen dem Stoff in diesem Herbst den Teppich aus.

Der Schotte Christopher Kane etwa appliziert weibliche Silhouetten in Rot und Blau auf schwarz schimmernde Samtkleider, Pucci und Armani setzen auf weite samtene Hosen, Dries van Noten sogar auf Boots aus Samt – von der Spitze bis zum Blockabsatz mit dem hochflorigen Material überzogen. Keine Frage, um Praktikabilität geht es dem Belgier und all den anderen Designern nur bedingt. Aber das war irgendwie absehbar. In den letzten Saisonen hatte auf den Laufstegen der schmallippige Minimalismus das Zepter geschwungen, mit "Normcore" ließ man das Normale, das Nullachtfünfzehn hochleben: zusammengeklebte Nike-Sneaker, Kunststoffrucksäcke, Baumwollsweater.

Nicht bügeln, nicht waschen

Jetzt schütten die Modehäuser in etwa das Gegenteil, nämlich prächtig anzusehende Materialien mit dem Füllhorn aus. Auch Hedi Slimane (Saint Laurent) und Alessandro Michele (Gucci), zwei der derzeit tonangebenden Designer, schwelgen in einem Gewebe, das "seit dem 13. Jahrhundert als Modestoff Furore gemacht hat", so die Kunst- und Kostümhistorikerin Silke Geppert. Und das, obwohl die Schattenseiten des Gewebes auf der Hand liegen: "Der Samt ist die Diva unter den Stoffen: Er lässt sich nicht bügeln, nicht waschen, nur reinigen." Das hat natürlich mit seiner Beschaffenheit zu tun.

Wie beim Frotteestoff würden bei der Samtherstellung Schlingen aufgeschnitten, deren Flor sich zwischen ein und drei Zentimetern Länge bewege, erklärt Geppert. Und weiter: "Der Samt kam über den Orient nach Italien und wanderte dann gen Norden. In der Renaissance wurde Samt geprägt und bestickt und gehörte zu den teuren, den limitierten Stoffen." Zielgruppe: die kaufkräftige Oberschicht. Die war damals fasziniert vom "fellartigen Charakter des Samtes, den Lichtbrechungen und Kontrasten", erklärt die Kunst- und Kostümhistorikerin. Die Herstellung von Samt war zeitweise sogar so populär, dass sich italienische Samtwebereien in Lucca bereits vor Plagiaten zu schützen begannen.

Männersache Samt

Dass Alessandro Michele in diesem Herbst sogar den samtenen Gucci-Mann entworfen hat? Verwundert mit Blick in die Vergangenheit nicht. Samt war nicht nur Frauen-, sondern vor allem Männersache. Und das nicht nur im liturgischen Bereich in Form von Stola, Manipel oder Kasel. Mittels Samt wurden einst Macht und Männlichkeit ausgestellt: "Es gab sogar Schamkapseln in rotem Samtfutteral", so Geppert. Dagegen ging der Auftritt des nachtblauen Samtanzugs bei Gucci geradezu unprätentiös über die Bühne.

Seinen Sinn für den großen Auftritt hat Samt aber noch lange nicht verloren. Die pompöse Inszenierung, wie sie Vivien Leigh 1939 in "Vom Winde verweht" in ihren Technicolor gefärbten Samtkleidern hinlegte, ist heute Sache des glamourösen Abendgeschäfts auf dem roten Teppich. In diesem Jahr sprangen immerhin Conchita Wurst, Beyoncé Knowles, Caitlin Jenner oder Julianne Moore in die Samtroben.

Trotz solch strahlender Auftritte ist sein delikates Image heute ein wenig angekratzt. Denn in den Regalen von Urban Outfitters oder Zara ist längst nicht alles Gold, was glänzt. Wurde Samt in Venedig, Florenz, Lucca vor Jahrhunderten noch als Mischgewebe aus Leinen oder Baumwolle mit Seide gefertigt, werden günstige Samtvarianten im modischen Bereich heute meist aus synthetischen Fasern, aus Polyester und Elastan hergestellt. Und in Florenz, in der Renaissance einst Zentrum der italienischen Seidenindustrie, werden an Plätzen wie der Fondazione Lisi vor allem historische Stoffe aus dem 15. bis 19. Jahrhundert rekonstruiert, reproduziert und restauriert. Wenn man hier kostbaren Samt produziert, dann für Theaterproduktionen, Museen oder den Vatikan.

Samt für Möbel

Dafür macht der Samt es sich in diesem Herbst aber nicht nur in der Mode und in den Kästen gemütlich – sondern auch im Interieur. Walter Benjamin, der in seinem Passagen-Werk über das Paris des 19. Jahrhunderts die Wohnung als Futteral, in das sich ihre Bewohner wie "in eine Sammethöhle" drückten, umschrieb, wäre auf der diesjährigen Kölner Interieurmesse im Cologne ins Staunen geraten. 2015 ist Samt nicht mehr nur exzentrisches Utensil für schummerige Bars oder auf der Theaterbühne. Das Bedürfnis, sich zu Hause in Samt zu drücken, ist zurück.

Wie sollte es anders sein: Wenn die Welt da draußen aus den Fugen gerät, dann soll sich doch wenigstens der Hintern in einen weichen Sessel graben können. Zumal die meisten Designhersteller formal auf Nummer sicher gehen. Sie bieten Variationen ihrer Sitzklassiker jetzt einfach auch in dunklem, meist farbigem Samt an. So wie Rolf Benz mit dem Sofamodell 323, der samtigen Interpretation des Sofaklassikers mit der Nummer 322. B&B Italia gibt sein Sofamodell Michel jetzt auch in changierendem Blau heraus. Und das dänische Unternehmen Gubi bezieht seinen Beetle Chair in nachtblauem Samt. Ihre Divenhaftigkeit dürfen diese Sitzgelegenheiten dann beim Praxistest zu Hause unter Beweis stellen. (Anne Feldkamp, RONDO, 2.12.2015)