Verrat an sportlichen Werten, erschreckende Details im Dopingskandal und neue Vorwürfe an den vermeintlichen Hoffnungsträger Sebastian Coe: Die internationale Leichtathletik droht immer mehr in ihrer größten Krise der Geschichte zu versinken.

"Wenn wir die Informationen veröffentlichen, wird es einen Wow-Effekt geben", sagte Richard Pound, Vorsitzender der unabhängigen Untersuchungskommission der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA), der britischen Tageszeitung The Independent: "Ich denke, die Menschen werden sagen, wie zur Hölle konnte das passieren? Es ist ein kompletter Verrat an all dem, was Verantwortliche im Sport eigentlich machen sollen."

Neuerlicher Untersuchungsbericht kommt Anfang 2016

Pound bezog sich dabei auf den zweiten Teil des Untersuchungsberichts, der voraussichtlich Anfang des kommenden Jahres veröffentlicht werden soll. Dieser beschäftigt sich vor allem mit den Verstrickungen des Weltverbandes IAAF in den Skandal. Aufgrund der Hinweise der Kommission wurden in Frankreich bereits gegen den ehemaligen IAAF-Präsidenten Lamine Diack sowie weitere Beschuldigte Ermittlungsverfahren wegen Korruption und Geldwäsche eingeleitet.

Zudem steht auch immer noch die Analyse einer von der ARD öffentlich gemachten IAAF-Datenbank mit 12.000 Blutwerten aus. Rund ein Siebtel der Proben soll Hinweise auf Doping geben – nicht nur bei russischen Sportlern. Die Untersuchungen durch Experten der WADA-Kommission laufen noch.

Zusammen mit Pound ermittelte auch der deutsche Polizist Günter Younger in der WADA-Kommission – und gab im Interview mit der Süddeutschen Zeitung einen erschreckenden Einblick in das System: Russische Athleten ließen sich selbst von der Anwesenheit der Ermittler nicht vom Dopen abhalten, Funktionäre zeigten sich uneinsichtig, und der WADA sind wegen mangelnder finanzieller Mittel offenbar die Hände gebunden.

"Für mich als Polizist war es überraschend, wie arrogant man dann teilweise mit uns umgegangen ist. Nach dem Motto: Es wird schon nichts passieren", sagte Younger, der nicht mit einem schnellen Wandel rechnet: "Die Betrugskultur zu entwurzeln, wird Jahrzehnte dauern. Da muss man auch fair sein und dem Land Zeit geben. Uns war wichtig, dass Personen wie Diack von der Justiz belangt und nicht nur von irgendeiner Ethikkommission für 80 Tage gesperrt werden. Die eine Nacht, die der im Gefängnis verbracht hat, wird Eindruck hinterlassen haben."

Zudem betonte er, dass weder die Leichtathletik noch Russland allein betroffen seien. "Wenn wir sehen, dass der ehemalige Chefarzt Portugalow nicht nur Leichtathleten, sondern auch Biathleten und Schwimmer betreute – warum sollte er es dort anders gemacht haben?", sagte Younger.

Für weitere Untersuchungen sei allerdings eine bessere finanzielle Ausstattung der WADA notwendig: "Wenn ich lese, dass die WADA mit 26 Millionen Dollar pro Jahr auskommen muss, während das IOC Milliarden einstreicht – da hoffe ich, dass die Agentur aufgerüstet wird. Und dann müssen sie als erstes nach Kenia laufen, ganz schnell. Mit dem gleichen Aufwand, den wir in Russland betrieben haben."

Coe unter Druck

Unterdessen gerät IAAF-Präsident Sebastian Coe durch Enthüllungen weiter unter Druck. Aus einer der BBC vorliegenden E-Mail geht hervor, dass Coe mit Vertretern des Sportartikelherstellers Nike die Bewerbung Eugenes diskutiert und versucht haben soll, seinen Vorgänger Diack von einer schnellen Entscheidung für die US-Stadt zu überzeugen.

Mitte April war Eugene völlig überraschend und ohne Bewerbungsverfahren die WM 2021 zugesprochen worden, obwohl auch Göteborg Interesse gezeigt hatte. Die Stadt im US-Bundesstaat Oregon ist Gründungsort der Firma und liegt nur unweit des Hauptsitzes in Beaverton. Coe, zweimaliger Olympiasieger über 1500 Meter und damals IAAF-Vizepräsident, kassiert als Botschafter des Unternehmens unter dem Markenzeichen Swoosh seit Jahren blendend. Der Brite wies die Lobbyismusvorwürfe zurück. Die BBC legte nach. So sei Coes Bewerbung um die IAAF-Präsidentschaft zu einem Drittel aus Steuergeldern bezahlt worden. (sid, 25.11.2015)