Ein internationales Verbrechen wurde verübt – unter erschwerenden Umständen: Der Täter bekennt das Verbrechen, entschuldigt sich aber nicht, sondern scheint noch stolz darauf zu sein.

Russland hat zuletzt alles getan, um einen Konflikt mit der Türkei zu verhindern: Regierungstreue Medien priesen Erdogan, haben den verbotenen Ölhandel mit dem in Russland verbotenen IS umgangen und die Unterstützung der Regierungspartei in Ankara für die Muslimbrüder in Ägypten und den krimtatarischen Medschlis in der Ukraine verschwiegen. Man thematisierte nicht, wer mehr als alle anderen an einem Misserfolg der russischen Luftwaffe in Syrien interessiert war und wer verschiedenste Anstrengungen unternommen hat, Russland zu schaden.

Die russische Diplomatie betrieb eine Mehrvektorenpolitik, versuchte, sich nicht ohne Not mit Israel, Saudi-Arabien und Ägypten zu streiten. Die Türkei wurde sogar als prioritärer Handelspartner angesehen, obwohl unsere außenpolitischen Interessen in jeder Beziehung weit auseinandergingen: in Syrien, Ägypten und auch auf der Krim. Trotzdem haben wir versucht, Erdogan nicht das Gefühl zu vermitteln, wir seien Feinde.

Westen hält den Rücken frei

Der türkische Präsident jedoch hat nach der jüngst gewonnenen Parlamentswahl, die ihm den Weg zur Superpräsidentschaft ebnete, beschlossen, es sei Zeit für entschlossenes Handeln. Der Westen hält ihm zur Not den Rücken frei. Klar, Obama liebt Erdogan nicht, aber Erdogan ist da nicht der Einzige – er liebt auch nicht die saudischen Scheichs, Assad, Netanjahu oder Putin. Obama mag die fügsamen Europäer lieber. Doch wie auch immer Obama denken mag, die Türkei ist durch den Nato-Vertrag geschützt. Ein Angriff auf die Türkei ist ein Angriff auf die Nato.

Das heißt, dass Ankara alles machen kann, was ihm beliebt: Islamisten in Ägypten sponsern, mit IS-Öl handeln oder russische Bomber abschießen und noch damit prahlen. Nach dem Motto, das war kein Fehler, sondern so gewollt. Versuch uns zu schlagen, und die ganze Welt steht für uns ein.

Im Jargon werden solche Typen Asoziale genannt; Verbrecher, die sich alles herausnehmen, weil sie wissen, dass im Notfall kriminelle Autoritäten für sie eintreten. Die Autoritäten grübeln noch, was sie mit dem Asozialen machen. Die Nato ist zu einer Sitzung zusammengetreten, um eine optimale Entscheidung zu treffen.

Wenn sie die Türkei zurechtweisen, gibt es kein Problem. Russland setzt den Kampf gegen den IS fort, und die Koalition mit dem Westen wird sogar stärker. Es gibt sogar einige Signale in die Richtung, so hat der Medschlis plötzlich entschieden, die Energieblockade der Krim abzubrechen. Vielleicht haben die westlichen Verbündeten ihren Freunden zu verstehen gegeben, dass sie zu weit gegangen sind. Andererseits hat das Pentagon schon seine Hände in Unschuld gewaschen: Macht es unter euch aus, eine Verfehlung hat es nicht gegeben.

Wenn der Westen Erdogan für den abgeschossenen Jet verurteilt, bleibt es beim Status quo. Plan A funktioniert. Und wenn nicht, was wahrscheinlich ist? Und wenn das noch nicht das Ende ist? Hat Russland einen Plan B?

Sind wir bereit, im Notfall einen harten Isolationskurs zu fahren? Ohne Exzesse und überflüssiges Pathos, aber hart und eindeutig? Ohne den jetzigen Samt, wo es in fast jeder TV-Sendung giftig nach den sprichwörtlichen hundert Blumen riecht? Wo das Außenministerium erklärt, dass wir keine anderen Werte als der Westen haben, und der Chef des wichtigsten Propagandasenders für das Ausland meint, dass unsere Differenzen mit den USA den Differenzen von zwei US-Staaten untereinander ähneln?

Ende des Tauwetters

Mir persönlich gefällt die samtweiche Welt, ich brenne nicht darauf, sie zu verlieren. Ich fühle mich hier wohl. Aber wenn Russland sich aus dem Mittelmeer zurückzieht, wird es – das müssen wir zugeben – kaum noch ins Minsker Format passen; und das bedeutet, dass das gegenwärtige europäisch-russische Tauwetter einer solchen Eiszeit weicht, dass das jetzige Klima dagegen an Kurorte erinnert.

Ich will nicht die künftigen Schrecken beschreiben, die Situation ist traurig genug. Aber offensichtlich ist, dass der Westen an einer Entspannung ebenso interessiert sein sollte wie Russland.

Leider verbirgt das der Führer des Westens, die USA, bisher geschickt – zu Unrecht. Wir sehen, dass die europäischen Länder wie Frankreich die Lage nicht so sorglos einschätzen. Die Franzosen verstehen: Wenn Russland von der Mittelmeerfront abzieht, werden die Amerikaner nicht gleich kommen. Sie werden weiter herumirren und unter den Jihad-Kämpfern Oppositionelle suchen, die wahre Demokraten sind.

Während die Amerikaner ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen, der Demokratensuche unter den Islamisten, fällt Damaskus tatsächlich – und zusammen mit einer Reihe weiterer Völkermorde in Nahost bricht ein Kampf der Giganten los zwischen Gruppierungen, die sich an der Türkei, Saudi-Arabien oder Katar orientieren. Dabei rede ich noch nicht einmal vom Iran, der natürlich versuchen wird, seine Interessen vor den regionalen Raubtieren zu schützen.

Russlands Gleichgültigkeit

Derweil wird auf den Petrodollars ein neues terroristisches Kalifat heranreifen, das früher oder später den Norden des Mittelmeerraums auf die Knie zwingt. Natürlich nur, wenn sich die westlichen Länder nicht an das Vermächtnis Churchills erinnern und die Völker des Südens mit Giftgas oder Schlimmerem vergiften.

Und Russland?

Russland wird das blutige Grauen mit eisiger Gleichgültigkeit betrachten. Und die Liebhaber europäischer Muse werden mit leichter Melancholie die Verse eines verfluchten deutschen Dichters zitieren:

"Nicht die Olivenlandschaft,/ nicht das tyrrhenische Meer/ sind die große Bekanntschaft:/ die weißen Städte sind leer,/ die Dinge lagern in stummen/ Gewölben aus Substanz/ und keine Schatten vermummen/ den regungslosen Glanz." (Boris Meschujew, 25.11.2015)