Ein 10-Kilometer-Lauf ohne Startnummer, Zeitnehmung und Wertungsklassen: Der "Great Ethiopian Run" lockt über 40.000 Läufer nach Addis Abeba – und ermöglicht sogar ein Treffen mit Gott.

Hochgurgl liegt 2.154 Meter über dem Meer. Nicht zuletzt deshalb sind die Touristiker des Ötztaler "Gletscherdorfes" stolz darauf, eines – wenn nicht das – höchstgelegene Ski- und Sportressorts Österreichs zu bewohnen. Ja, das hat genau gar nichts mit dieser Geschichte vom "Great Ethiopian Run" und Haile Gebrselassie zu tun. Oder doch?

Foto: Robert Bauer

Während Sie das hier lesen, bin ich in den Ötztaler Alpen. Skifahren. Dienstlich. Und habe Harald Fritz wohl schon jene Frage beantwortet, die er mir Dienstagabend stellte: Würden mich der Klimazonenwechsel und der Flug von Afrika nach Wien komplett ausknocken – oder würde das Laufen in Addis Abeba mir einen geradezu dopingartigen Energieschub verpassen?

Schließlich liegt Äthiopiens Hauptstadt auf 2.400 Metern. Aber niemand in der Viermillionen-Metropole hat der Stadt je das Etikett "hochalpine Sportstadt" umgehängt.

Foto: Thomas Rottenberg

Was mich hierher verschlagen hat? Als ich im September den nach Wien geflüchteten Lemawork Ketema auf der Hauptallee traf und interviewte , rief mich Harald Fritz an. Fritz ist Ketemas Trainer. Ganz nebenbei erzählte er, dass er plane, in Äthiopien Trainingslager zu organisieren. Ähnlich, wie es sie etwa in Kenia gäbe.

Der Unterschied: Fritz ist – auch – Triathlon-Trainer. Ihm schwebt vor, in Äthiopien Tri-Camps abzuhalten. Also das, was Hobbysportler in Massen auf Inseln jetten lässt. Dort gibt es zwar Infarstruktur – aber eines fehlt: legendäre und unschlagbare Läufer kommen von anderswoher. Etwa aus Äthiopien. Ob mich das interessiere?

Foto: Thomas Rottenberg

No na. Noch dazu, wo Fritz für den Schnupper- und Pilottrip ein ganz besonderes Zeitfenster anvisierte: Das vorletzte November-Wochenende. Da wird in Äthiopien – je ärmer ein Land, desto religiöser die Menschen – nicht nur das Fest des Heiligen Michael begangen, sondern auch gelaufen. Seit 15 Jahren findet da der "Great Ethiopian Run" statt. Ein Straßenlauf. 40.000 Teilnehmer.

Zehn Kilometer. Und auch wenn 10K hierzulande Keinen aufregen, waren die Reaktionen (der Wissenden) einhellig: Der "Great Ethiopian Run" ist einer der "Sehnsuchtsläufe" vieler Läuferinnen und Läufer.

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Auf den ersten Blick schwer nachvollziehbar: Es gibt da etwa – abgesehen von einer Elite vorneweg – keine Startnummern. Keine Zeitnehmung. Keine Startblöcke. Keine Wertungen, Alters- oder sonstige Gruppen oder Siegerehrungen (wie gesagt: abgesehen von den Eliteläufern).

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Und schon der oberflächlichste Bericht verrät, dass es hier nicht nur kaum ums Laufen geht, sondern Laufen oft sogar unmöglich ist: Das hier ist ein Volksfest. Groß und Klein, Jung und Alt, Dick und Dünn machen sich auf den Weg. Oder Teile davon (man kann ja auch Teilstücke auslassen. Oder U-Bahn fahren). Und haben vor allem eines: Spaß.

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(v.l.n.r.: Afredis Belachew, Harald Fritz, Haile Gebrselassie)

Doch ich greife vor. Fritz rief wieder an: Über Lemaworks hat er Kontakt zu Afredis Belachew. Der habe lange Jahre Haile Gebrselassie betreut. Und Gebrselassie sei ja nicht bloß ein charismatischer Laufgott, sondern in Äthiopien eine Wirtschaftsmacht: Generalimporteur asiatischer Autos, am Immobilen- und Büromarkt aktiv.

Er ist an Kinos und Freizeieinrichtungen beteiligt und seine Frau hat eine Fitnesscenterkette. Außerdem ist da die Hotellerie. Haile errichtet gerade am Rande von Addis Abeba ein pipifeines Trainingsresort: Hotel, Laufbahn, 50- oder 25-Meter-Pool, Gym… die ganze Speisekarte. Außerdem steht er maßgeblich für den "Great Ethiopian Run"

Foto: Thomas Rottenberg

Haile Gebrselassie ist in Äthiopien ein Heiliger. Wo er mitmischt, will jeder dabei sein. Man verehrt Gebrselassies Werbewirksamkeit (national wie international) oder aber sein bei 1.001 Auslandsaufenthalten bei Wettkämpfen geschultes Gespür für Dinge, die im Kommen sind. Sportreisen etwa.

Auch die (staatliche) Wirtschaft – etwa Äthiopiens nationale "Ethiopian Airlines" – will da mitspielen. Und sich jetzt schon als "optimalen Carrier für Athleten, die nach Afrika kommen wollen" positionieren. Sagt Solomon Mekonnen, Österreich- und Osteuropadirektor der Airline.

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Das bringt mich zum Compliance-Part dieser Geschichte: Ich habe den Trip voll, selbst und zur Gänze aus eigener Tasche bezahlt. "Ethiopian" als einer der Hauptsponsoren des Laufes wurde aber auf die Läufer-Truppe aus Österreich aufmerksam.

Mekonnen bat mich zu sich, referierte über Airline und Äthiopien, aber auch über gesamtafrikanisches Wirtschafts- und Entwicklungs-Empowerment – und gradete mich von Holz auf Business up: Bei einem sechsstündigen Nachtflug nicht unangenehm. (Beim Heimflug – ebenfalls über Nacht – habe ich es mir dann selbst spendiert: Über den Frische-Unterschied zwischen mir und meinen Mitreisenden kann man eine Oper schreiben.)

Foto: Thomas Rottenberg

Addis Abeba also. Mein erstes Mal "echtes" Afrika. Für einen "Novizen" die latente Gefahr, von einem Klischee ins nächste zu kippen. Von wegen "Kontinent in Bewegung", Lärm, Stau, Staub, Armut und so weiter … Ich versuche aber, bei meinem Thema zu beiben: Laufen.

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Um sieben in der Früh aus dem Flieger zu steigen, Laufschuhe anziehen und losrennen, ist schon so nicht immer einfach. Aber auf 2.400 Metern los zu joggen, ist eine harte Nummer. In jeder Hinsicht. Noch dazu, wo Laufen hier im Hügeligen stattfindet – und auf Wegen, die Trailqualität haben.

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Aber äthiopische Läufer legen auf so einem Untergrund Intervalle und Sprints hin, die keiner von uns auf der Bahn hinbekäme. Nein, auch nicht auf Wiener Seelevel.

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Natürlich ist das, was jetzt kommt, auch Klischee. Aber es war wirklich so: Wir fielen – vergleichsweise – schwerfällig, schnaufend, schwitzend zwischen den leichtfüßig und geradezu schwerelos dahinfedernden Afrikanern natürlich auf, wie Pottwale auf den Pyramiden.

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Und waren binnen Minuten – und egal wo – eine Attraktion. Eine, die vor allem Kinder faszinierte. Denn so viele Weiße verirren sich nicht hierher. Noch nicht. Und die, die es tun, laufen selten quer durchs Gemüse.

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Zwei Tage Akklimatisation waren es. Ein Lauf auf 2400, einer auf 2800 Metern. Nie länger als 45 Minuten. Mit Geschwindigkeiten, bei denen ich in Wien von "sitzen" spreche. Aber: Die paar Schritte gingen rein, wie zügige Longjogs.

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Und dann war – endlich – Sonntag. Raceday. Und schon am Weg zum Start war klar: Dieser Lauf würde etwas ganz Anderes sein, als alles, was jeder von uns zuvor je erlebt hatte.

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Jeder kennt diese Spannung, die Aufregung, die Nervosität, die Unruhe und die fast körperliche Nervosität vor dem Start. Hier war das zwar auch da – aber es war mehr: Eine Party. 40.000 Teilnehmer lautet die offizielle Zahl. Manche sprechen auch von 45.000. Auch 50.000 habe ich gehört.

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Egal: Es sind viele, viele, viele Menschen. 700 davon keine Afrikaner. Das, betonte Haile Gebrselassie bei der Pastaparty für die "Lauftouristen" am Vorabend, sei neuer Rekord – und zeige den Weg.

Die Zukunft: Äthiopien – und Afrika – wolle sich selbstbewusst und mit neuen, positiven Themen positionieren. Und könne sich sich auf dieser Basis entwickeln – und öffnen.

Foto: Thomas Rottenberg

Auch – aber das sagte Gebrselassie nicht selbst – politisch: Dass Äthiopien alles andere als eine lupenreine Demokratie ist, ist kein Geheimnis: Nur aus Jux und Tollerei hat – nur zum Beispiel – Lemawork Ketema nicht um politisches Asyl in Österreich angesucht.

Dass es ihm gewährt wurde, hat Gründe, die nichts mit seinen sportlichen Leistungen zu tun haben.

Foto: Thomas Rottenberg

Zurück nach Afrika. Zum Laufen: Darauf, dass das ein "zurück zum Ursprung" ist, wies uns auch dieser Mann hin: Bekele Lelisho. Der Rastafari und Anthropologe führte uns durch das Nationalmuseum. Hier liegt "Lucy, das als 3,2 Millionen Jahre alt datierte Teilskelett einer Frau, das 1974 gefunden wurde. Auf amharisch, einer der Sprachen Äthiopiens, heißt Lucy "Dinknesh": "Du Wunderbare".

Mit Dinknesh (und ähnlichen Funden) belegen die Äthiopier, dass die Eroberung der Welt durch den aufrecht gehenden Menschen in Afrika begann: "Dinknesh lief – und ihr kommt hierher zurück um zu laufen." Wir sind Lauf-Rastafaris. Damit kann ich leben.

(Anm.: Auf dem Tuch von Bekele Lelisho ist eine Swastika abgebildet)

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Das mit unserem Zurückkommen hat aber tatsächlich etwas. Jedenfalls für die Äthiopier: Ob wir Entwicklungshelfer oder UN-Mitarbeiter seien, werden wir immer und immer wieder gefragt. Die Antwort, dass wir gekommen sind, um hier zu laufen, lässt die freundlichen Fragesteller strahlen.

Macht sie stolz. Stolz auf ihr Land. Auf ihre Geschichte. Auf ihre großen Läufer – aber vor allem darauf, etwas zu haben, das vollkommen Fremden Respekt und Hochachtung abnötigt, allen gemeinsam Freude macht – und uns von weit her anreisen lässt: "This is so very encouraging. It really makes us proud."

Foto: Thomas Rottenberg

Der Lauf selbst? Unbeschreiblich. Mit nichts zu vergleichen, woran ich bisher teilgenommen habe. Das hat wenig damit zu tun, dass ich höchstens ein Drittel der zehn Kilometer tatsächlich zum Laufen kam: Die Menschenmenge war so dicht und so kompakt, dass daran schlicht oft nicht zu denken war.

Außer man kämpfte sich vor dem Start schon weit nach vorne und arbeitete sich dann auf den ersten Kilometern kontinuierlich durch das Feld: Dann, aber nur dann, konnte man tatsächlich zügig rennen.

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Die meisten aus unserer Gruppe machten das so. Ich nicht: Ich wollte sehen und erleben. Und bereue es keine Sekunde, oft minutenlang einfach dagestanden, zugesehen, geplaudert oder einfach nur gestaunt zu haben.

thomas rottenberg

Allein auf der Ziellinie habe ich locker drei Minuten "verloren" – und erst beim Abholen der Medaille (nach zehn Minuten Schlange stehen) meine Uhr abgeschaltet: Ich hatte sie einfach vergessen. Aber: Hätte ich es anders gemacht, hätte ich etwas versäumt. Das, worauf es für mich hier ankommt.

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Wäre der Lauf nicht schon Grund genug gewesen, hierher zu kommen, waren es die nächsten Tage: Gleich neben Resort von Haile Gebrselassie liegt ein ähnliches (fast fertiges) Sportzentrum. Es gehört Kenenisa Bekele. Wikipedia zählt auf: "Er ist dreifacher Olympiasieger und ehemaliger Weltmeister über 10.000 und 5000 Meter, Inhaber der Weltrekorde über 10.000 und 5000 Meter (Stand Dezember 2013) sowie sechsfacher Weltmeister im Crosslauf über die Langstrecke." Als wir den Resortmanager fragen, ob wir uns die Anlage ansehend dürfen, gibt er uns Bekeles Handynummer. Zwei Stunden später sitzen wir mit dem Superstar beim Kaffee in Addis Abeba.

Für Nicht-Freaks: Das ist in etwa so, als würde man als beliebige Hobbykickerpartie Ronaldo oder Messi daheim anrufen, weil man halt grad in der Gegend ist – und die Herren Stars heben nicht nur ab, sondern meinen: "Schön, dass ihr da seid – wollt ihr rasch auf ein Bier rüberkommen?"

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Aber es kam noch mehr: Eine Privataudienz bei Gott persönlich. Obwohl sich Haile Gebrselassie gegen diesen Terminus verwahren würde – wenn auch mit jenem für ihn charakteristischen Spitzbubenlachen, das ihn – neben seinen unpackbaren Laufleistungen – zum unangefochtenen Sympathie-Superstar der Laufwelt macht.

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Haile erzählte… (Moment: Nein, ich maße mir hier nicht das "Du"-Wort an – Äthiopier sprechen einander per Vornamen an, weil der Nachname .. ach, das ist hier jetzt zu kompliziert)

Haile also erzählte, wieso er diesen "Great Ethiopian Run" zu seinem Abschiedslauf von der internationalen Laufbühne gemacht hatte, wieso er die letzten Kilometer barfuß gelaufen war: "Als Erinnerung an und Respektsbezeugung für Abebe Bikila." (Abebe Bikila gewann bei den olympischen Spielen 1960 als erster schwarzafrikanischer Athlet Gold. Er war barfuß gelaufen.; Anm T R). Das hätten wir auch selbst assoziiert. Hailes Nachsatz nicht: "Es war verdammt hart. Nicht das Laufen – aber der Asphalt war am Schluss schon richtig heiß …"

Außerdem plauderte er über Motivationstiefs und Trainingspausen, Starrummel und die Angst vor Terror bei Großevents – und ließ meine Mutter "ganz ganz herzlich grüßen".

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Nur: Alleine das, würde eine oder zwei eigene Kolumnen füllen. Wird es auch. Versprochen. Denn diese hier ist sowieso schon viel zu lang geworden.

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Anmerkung im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Die Reise wurde privat bezahlt, das Businessclass-Upgrade beim Hinflug war eine Gratifikation von Ethiopian Airlines.

ethiopianrun.org

Harald Fritz

(Thomas Rottenberg, 27.11.2015)

Foto: screenshot