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VW hat trotz der Abgasaffäre bisher kaum Absatzprobleme. Die Marke genießt weiter das Vertrauen der Käufer.

Foto: dpa / Hendrik Schmidt

Der Wiener Webdesigner Ulrich D. hat sich endlich seinen Traum erfüllt. Nach der Geburt seines zweiten Kindes, einer Tochter, hat er sich gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin dazu entschlossen, den alten Kleinwagen gegen einen neuen Familienvan einzutauschen. Die stärkste verfügbare Motorisierung, Automatik, elektronische Seitentüren – Familie D. ist stolz auf den Neuzugang. Fix ist aber auch schon: Irgendwann in den kommenden Monaten muss der Pkw in die Werkstätte.

Das neue Auto ist ein VW-Sharan mit Dieselmotor, der von der Abgasaffäre bei Volkswagen betroffen ist. Der Konzern hat elf Millionen Dieselfahrzeuge derart manipuliert, dass die Pkws bei Tests weniger Schadstoffe als auf der Straße ausstoßen. Die verwendeten VW-Motoren verbrauchten weniger Kraftstoff, was die Kunden anlocken sollte. Der Abgasausstoß war aber höher. Dieses Manko korrigierten die Ingenieure mit der manipulierten Software. D. nennt das eine "Sauerei". Zum Kauf des Autos hat er sich nach Auffliegen der Affäre dennoch entschlossen. Denn der 33-Jährige sagt auch: "Ich vertraue der Marke weiter. Sie bauen ja gute Autos."

Bedenkliche Strategien

Unternehmen greifen weltweit immer wieder auf bedenkliche Strategien zurück, um ihre Gewinne zu maximieren. Aber welche Rolle spielen dabei die Konsumenten? Ohne Käufer kein Absatz. Sie haben es also in der Hand, ökologisches und rechtsstaatliches Fehlverhalten zu sanktionieren. Wenn Firmen die Umwelt verschmutzen, arbeitsrechtliche Normen verletzen, Menschen diskriminieren oder ihre Steuern nicht zahlen: All das kann ja auch bei der Kaufentscheidung eine Rolle spielen.

In der Praxis scheint es, dass die Konsumenten ihre Macht nur selten nutzen. Viele der Skandale und Affären haben keine Auswirkungen aufs Geschäft. Ein paar Beispiele.

Die Praktiken beim Onlinehändler Amazon werden seit Jahren kritisiert. Ein Undercoverjournalist der BBC deckte 2013 auf, dass Arbeitnehmer bei Amazon unter Extrembedingungen schuften müssen. Für Krankheitstage gab es "Strafpunkte", wer nicht schnell genug war, wurde vom Management sofort unter Druck gesetzt.

Die Geschichte über Arbeitsbedingungen verfolgt den Konzern seither hartnäckig. Hinzu kommen Vorwürfe des Steuerdumpings, weil Amazon seine Europageschäfte über Luxemburg abrechnet und dort kaum Gewinnsteuern zahlt. Geschadet hat das dem Konzern nicht, die Konsumenten reißen sich um die Päckchen. Im abgelaufenen Quartal setzte der Konzern weltweit 25,4 Milliarden Euro um. Mehr als je zuvor.

Der US-Techkonzern Apple wird seit Jahren wegen der Arbeitsbedingungen bei seinen Vertragspartner in China kritisiert. Der Zulieferer Foxconn soll 14-Jährige beschäftigt haben, die Firma gab das zu und sprach von Praktikanten. Die Regelarbeitszeit in einigen Werken soll pro Woche bei 60 Stunden gelegen haben. Es gab aus China sogar Berichte über erhöhte Suizidraten in Foxconn-Werken. Apples Erfolgsstory hat das ebenso wenig geschadet wie die über Irland laufenden Steuersparmodelle.

Über Google und Ikea (aggressive Steuervermeidung) sowie Starbucks (illegale Steuervermeidung) ließe sich das Gleiche sagen. Die längerfristigen Folgen sind noch unklar, aber im Oktober gingen die Absätze bei VW in Europa trotz des Abgasskandals nur geringfügig zurück. Die Liste ließe sich lange fortführen.

Das Onlinenetzwerk Facebook steht nicht erst seit den Klagen des österreichischen Jusstudenten Max Schrems wegen seines laxen Umgangs mit persönlichen Daten und deren kommerzieller Verwertung in der Kritik. Ende August 2015 vermeldete der Konzern aus Silicon Valley dennoch stolz, dass erstmals mehr als eine Milliarde Menschen an einem Tag eingeloggt waren.

Die Deutsche Bank hat in den vergangenen drei Jahren mehr als neun Milliarden Euro an Strafen zahlen müssen. Mitarbeiter des Geldhauses hatten Leitzinssätze manipuliert, die Bank hatte trotz Sanktionen Geschäfte mit dem Iran abgewickelt. Die Strafen und hohen Kosten für Rechtstreitigkeiten haben inzwischen zu Verlusten geführt. Aber Kunden und Sparer belieben treu.

Empirisch untersucht

Empirische Untersuchungen zeigen, dass Menschen sehr wohl verlangen, dass sich Firmen an ethische Standards halten. Die Skandale und Affären sind der Öffentlichkeit, sind den Konsumenten nicht gleichgültig. Die Marktforscher vom GfK-Institut in Österreich etwa haben erst vor kurzem eine Befragung von 1000 Menschen zu dem Thema veröffentlicht. Fast 90 Prozent der Österreicher gaben an, dass sie sich von Unternehmen erwarten, sozial verantwortlich zu handeln. Etwa ebenso viele pochen auf die Einhaltung von Umweltstandards.

Zugleich geben aber nur 60 Prozent der Befragten an, selbst dann das sozial verträglichere Produkt zu wählen, wenn es etwas teurer ist. Nur ebenso viele behaupten von sich, selbst keine Produkte aus Kinderarbeit zu kaufen. "Wenn man bedenkt, dass bei einer solchen Befragung viele Menschen die sozial erwünschte Antwort geben, ist das reale Bild wahrscheinlich um einiges dramatischer", sagt Johannes Eckner von GfK. Die Menschen sind kritischer gegenüber den Unternehmen, aber weniger reflektiert, wenn es um ihre eigene Rolle geht, meint der Forscher.

Aber wie stark ist der Zusammenhang zwischen den eigenen moralischen Vorstellungen und dem Konsumverhalten im Alltag wirklich?

In einigen Fällen ist die Antwort einfach, weil sich die Frage sinnvoll gar nicht stellt. Wenn Konzerne eine Monopolstellung innehaben, ist es für Menschen nur schwer möglich, auszuweichen. Das gilt im Falle von Facebook: Es gibt zwar andere soziale Netzwerke wie studiVZ im deutschsprachigen Raum. Doch die Zahl der Nutzer ist im Vergleich zu Facebook so niedrig, dass Menschen nicht fündig werden, die sich online mit Freunden und ehemaligen Mitschülern vernetzten wollen. Trotz aller Kritik an Facebook besitzt ja selbst Max Schrems noch seinen Account.

In den Köpfen der meisten Internetnutzer genießt wohl auch Google eine De-facto-Monopolstellung. Klar ist auch, dass es keine Alternative gibt, wenn man sie sich nicht leisten kann. Für eine fünfköpfige Familie immer nur Biofleisch einzukaufen geht ins Geld.

Doch Automarken und Handyhersteller gibt es viele mit ähnlichem Preisangebot. Onlineversandhändler kann man ersetzen, die eigene Bank wechseln, Kleider woanders kaufen. Warum treffen wir vor dem Hintergrund fragwürdiger Firmenpraktiken die Kaufentscheidungen, die wir treffen? Sechs Einflussfaktoren lassen sich ausfindig machen:

1. Der Konsument schaut auf sich

Bei der VW-Affäre geht es darum, wie hoch die Stickoxid- und Kohlendioxidemissionen eines Autos sind. Dies sei Käufern "relativ egal", sagt der Marktforscher Roman Becker vom Mainzer Institut Forum. Kunden achteten beim Autoerwerb auf technische Anforderungen, Sicherheit und Qualität. Wenn diese Bedürfnisse von einem Anbieter befriedigt werden, entstehe eine hohe Beziehungsqualität zum Hersteller. Und dieses Band reißt nicht so leicht. Umgekehrt beeindrucken Skandale Konsumenten dann, wenn die eigene Sicherheit und jene der Familie auf dem Spiel stehen. 2009 und 2010 musste der japanische Autobauer Toyota in den USA einen Massenrückruf wegen klemmender Gaspedale und rutschender Matten durchführen. Eine Reihe von Unfällen mit Todesopfern wurde mit der Affäre in Verbindung gebracht. Die Absatzzahlen des Konzerns brachen in Nordamerika ein.

Auch die Wirtschaftsuniversität Wien hat das Thema beleuchtet. Im Rahmen einer Masterarbeit wurden Versuchsteilnehmern Artikel über Missstände beim Textilhandelsriesen H&M vorgelegt. Das Ergebnis: "Ernüchternd", wie Professorin Bernadette Kamleitner meint. Die Berichte über schlechte Arbeitsbedingungen und Umweltverschmutzung lösten moralische Ablehnung aus. Vor allem Meldungen über eine Gesundheitsgefährdung von Textilien schlugen auf den Magen. Doch Auswirkungen auf das Einkaufsverhalten hatten die Bedenken so gut wie nicht. Es wurde weiterhin fleißig bei H&M gekauft.

2. Der bequeme Konsument

Wenn es also nicht um die körperliche Sicherheit geht, wird offenbar weniger genau hingesehen. Doch der Mensch schätzt auch Gemütlichkeit. Als im Vorjahr aufflog, dass der deutsche Autofahrerklub ADAC seine Publikumswahl "Goldener Engel" zum Lieblingsauto manipuliert hatte, war die Aufregung groß. Geschäftseinbußen musste die Organisation nicht hinnehmen. Für den Marktforscher Becker keine Überraschung: "Die Autofahrer wollen eine rasche und verlässliche Pannenhilfe." Eine Leserwahl sei für die Kunden irrelevant. Auch in anderen Fällen spielt die Bequemlichkeit eine große Rolle. Wer Amazon ersetzen will, wo man mit zwei Klicks einkaufen kann, muss sich die Mühe antun und in einem Geschäft nach der Ware stöbern.

3. Die Macht der Gefühle

Jahrzehntelang war es die vorherrschende Meinung unter Ökonomen, dass der Mensch ein Homo oeconomicus ist, der rational agiert und nach der Maximierung seines eigenen Nutzens strebt. Was an den Märkten zu Problemen und Verzerrungen führt, sind demnach vor allem fehlende oder ungleich verteilte Informationen zwischen Käufern und Verkäufern.

Doch zahlreiche Forscher, darunter etwa Daniel Kahneman, der Wirtschaftsnobelpreisträger aus Israel von 2002, haben gezeigt, dass diese Annahme unsinnig ist. Im Gegenteil, der Mensch ist eigentlich sogar ziemlich schlecht darin, seine eigenen Interessen am Markt zu vertreten.

Der Psychologe Kahneman hat dafür eine Reihe von Gründen gefunden: Menschen sind es im Alltag nicht gewohnt, scharf nachzudenken, und neigen zur Selbstüberschätzung. Viele tun sich mit Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung schwer. Beide Felder sind nicht unwichtig, wenn es darum geht, die Auswirkungen von Geschäften einzuschätzen. Kahneman spricht von zwei Systemen, die aktiv sind. "System 1" trifft auf Basis von Gefühlen, Intuition und Eindrücken schnelle und emotionsgesteuerte Entscheidungen. "System 2" ist geprägt von Vernunft, Selbstkontrolle und Intelligenz. Auch wenn Menschen glauben, rational zu agieren, hat doch fast immer "System 1" die Oberhand, so der Psychologe. Das gilt auch für Konsumentscheidungen, die also eher aus dem Bauch heraus und ad hoc als mit dem Kopf getroffen werden.

Das nutzen natürlich auch die kommerzielle Verbraucherforschung und die Werbeabteilungen der Konzerne aus. Produkte werden nicht mit ihrer Praktikabilität und nicht mit dem Preis beworben, sondern mit einem Lebensgefühl

Apple-Handys gelten deshalb als schicke und trendige Lifestyleprodukte. Dieses Gefühl ist für viele so überwältigend, dass es eben gar nicht mehr dazu kommt, "System 2" bei einer Kaufentscheidung einzuschalten, mit dem man abwägen kann: Ist das die beste Option für mich, die Umwelt und die Gesellschaft, in der ich leben mag?

4. Die Macht der Gewohnheit

Der Mensch folgt im Alltagsleben Routinen, sagt Johannes Eckner von GfK, das gilt auch beim Einkaufen. Man greift also zu Produkten, die man kennt, das mache das Leben einfacher. Das heißt aber auch, dass es schwerfällt, aus Routinen auszubrechen. Wer seit 20 Jahren das gleich Fruchtjoghurt kauft, will das in der Regel auch weiter tun", sagt Eckner. Eine Sensibilität haben Käufer bei Lebensmittel. Doch auch hier zeigt sich. Krisen sind meist nur von temporärer Dauer. Ob Salmonellen oder Gammelfleisch: Nachhaltig konnten diverse Skandale die Einkaufsgewohnheiten nicht beeinflussen.

Das zeigte heuer auch ein spektakulärer Fall aus Österreich. Im Juli wurden drei frühere Mitarbeiter der Firma Toni's Freilandeier und der Chef des Unternehmens in einem Betrugsprozess für schuldig gesprochen. Laut dem nicht rechtskräftigen Schuldspruch von damals hatten sie zwischen 2009 und 2011 rund 797.000 Eier, die nicht mehr frisch waren, wieder in den Handel gebracht. Doch in den Supermärkten hatte das keine Folgen. Laut Marktführer Rewe blieb die Nachfrage stabil. Einige Einzelprodukte seien im Verkauf sogar leicht angestiegen, andere waren etwas rückläufig.

5. Stress und Sparsamkeit

Der Mainzer Marktforscher Becker sagt, dass Lebensmittelkäufer überhaupt extrem preisbewusst sind und möglichst wenig Geld und Zeit mit dem Einkauf verlieren. Mit Nachhaltigkeit lasse sich in der Regel nicht punkten. Keine Frage: Es gebe eine stark wachsende Zahl an Veganern, Biofans, Fairtrade-Kunden und dergleichen. Doch letztlich handle es sich dabei um Nischen, ist Becker überzeugt: "Entscheidend ist, was die breite Masse macht. Und da spielt Nachhaltigkeit überhaupt keine Rolle."

Lediglich nach einem Kauf würden Kunden ihr Umweltgewissen beruhigen, wenn das Produkt ökologisch besser abschneidet als ein anderes. Bei der Kaufentscheidung spiele es aber keine Rolle. Becker nennt diesen Effekt "Nachrationalisierung", die "im Nachhinein guttut". Professorin Kamleitner sieht das nicht ganz so und verweist auf die wachsende Gruppe von Menschen, die bewusst einkauft. Lebensstil und soziales Prestige prägten hier das Konsumverhalten. Doch sie sagt auch: "Die Konsumenten echauffieren sich über Skandale, aber wenn es ums Geld geht, spielt das keine Rolle."

6. Ein Kunde hat viele Interessen

Der Grazer Soziologe Klaus Kraemer macht auf noch einen Aspekt aufmerksam. Bei Kaufentscheidungen prallen bei Konsumenten manchmal gegensätzliche persönliche Interessen und Moralvorstellungen aufeinander. Beispiel Autokauf: Da geht es nicht nur darum abzuwiegen, ob der Pkw die Umwelt schont. Mit dem Auto muss man auch sozialen Verpflichtungen nachkommen, wie die Eltern auf dem Land besuchen. Man will auch die Kinder sicher zum Musik- und Sportunterricht fahren. Ein Familienvan bietet in puncto Sicherheit mehr Schutz als ein Kleinwagen.

Aber welchen Schluss sollte man nun aus alledem ziehen? Eine mögliche Antwort besteht sicher in dem Appell an die Kunden, bewusster auszuwählen. Es gibt ja durchaus Entscheidungen, bei denen Käufer lang und intensiv überlegen. Der Soziologe Kraemer nennt etwa den Hauskauf als Beispiel. "Das Heim wird mythologisch fast überhöht, da wenden die meisten Menschen viel Zeit auf, um abzuschätzen, was die Kaufentscheidung nun für sie und ihre Kinder bedeutet." Beim Haus schauen auch viele auf Energiekosten und Verkehrswege, also auf Umweltverträglichkeit. Warum nicht dieselbe Sorgfalt auch im Supermarkt oder im Handyshop walten lassen?

Folgt man den Forschungsergebnissen von Experten wie dem Nobelpreisträger Kahneman, werden Moralappelle an den Konsumenten aber wenig bringen. Denn die Ratio hat vor dem Kaufregal wenig Bedeutung.

Die einzige Alternative laut dieser Denkschule besteht darin, die Entscheidung auf eine andere Ebene zu verlagern. Nicht der Kunde im Geschäft soll also mit seiner Auswahl moralisch richtiges Verhalten belohnen oder falsches sanktionieren. Sondern der Staat muss von vornherein durchsetzen, dass Unternehmen unter fairen und ökologisch verträglichen Bedingungen produzieren, wie auch Kraemer sagt. Wo der Staat bisher weggeschaut hat, müsste er genauer hinsehen. Die Entscheidung darüber, ob das geschieht, liegt in Demokratien natürlich auch bei den Kunden. In der politischen Arena hört er nicht auf den Namen Konsument. Dort ist er einfach der Bürger. (Andras Szigetvari, Andreas Schnauder, 26.12.2015)