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Auf US-Händler warten Wahlen und die Fed. Das Börsenjahr soll nicht spektakulär werden, meinen Experten.

Foto: AP / Richard Drew

Der New Yorker Nate Silver sagt Wahlergebnisse mit einer Akkuratesse voraus, dass man ihn gelegentlich das Orakel von Brooklyn nennt. Bei den jüngsten Urnengängen, ob es sich nun um das Präsidentschafts- oder das Kongressvotum handelte, lag er fast immer richtig, oft bis in kleinste Detail, weshalb sein Blog "FiveThirtyEight" mittlerweile Pflichtlektüre für Leute ist, die sich auf die politische Zukunft einzustellen versuchen.

Neulich begab sich Silver auf das Feld der Wirtschaftsprognose, schon deshalb, weil das Weiße Haus womöglich in demokratischer Hand bleibt, sollte der Konjunkturmotor im November 2016 brummen, und vielleicht in republikanische Hände wechselt, sollte er stottern. Die Bilanz, die der Publizist zog, war von erfrischender Ehrlichkeit.

"Wir haben so gut wie keine Ahnung, wie die Wirtschaftslage am Wahltag sein wird", schrieb Silver. Im Herbst nächsten Jahres könnten sich die USA in einer Rezession wiederfinden oder aber einen Aufschwung erleben, wie ihn Ronald Reagan in den Achtzigern mit seinem "Morning in America"-Optimismus beschwor und wie er am spürbarsten in den Neunzigern unter Präsident Bill Clinton Wirklichkeit wurde.

Ein Rückfall in die Rezession? Während sich der Diskurs momentan nur darum dreht, wie schnell die amerikanische Notenbank angesichts guter Konjunkturdaten nach der erwarteten ersten Anhebung im Dezember ein nächstes Mal an der Zinsschraube dreht, klingt Silver wie ein eigenwilliger Solist, der sich nichts macht aus Dissonanzen mit dem Chor der Mainstreamanalysten.

In aller Regel seien Ökonomen damit überfordert, für länger als sechs Monate vorauszusagen, welche Richtung die Wirtschaft nehme, bemerkt er trocken. Man nehme nur das Jahr 2007, wie 2015 ein Jahr vor einer Präsidentschaftswahl. Zwar habe sich in jenem Herbst bereits abgezeichnet, dass sich Probleme mit Subprime-Hypotheken häuften, doch nur einige wenige Außenseiter hätten orakelt, dass die Subprime-Krise die gesamte Volkswirtschaft in den Strudel reißen könnte. Die historische Fehlerquote bei Wachstumsprognosen, hat Silver übrigens ermittelt, liegt bei plus/minus 4,6 Prozent.

Zwischen Empirie und Realität

Interessant ist, dass Amerikaner die eigene Lage oft kritischer einschätzen, als man es sich in Europa mit Blick auf die mögliche Zinsspirale der Federal Reserve vorstellen kann. Zu den scheinbaren Paradoxa des Wahlkampfs gehört die Lücke, die zwischen Statistiken und empirischen Erfahrungen klafft. Während die Statistik einen klaren Aufwärtstrend aufweist, begegnet das Gros der Normalverbraucher den Zahlen mit tiefer Skepsis, da man angesichts stagnierender Realeinkommen persönlich keine Besserung spürt.

Nach einer unlängst vom "Wall Street Journal" in Auftrag gegebenen Umfrage hat mehr als die Hälfte der Wähler das Gefühl, das ökonomische und politische System befinde sich in einer Verfassung, dass es "Menschen wie mir zum Nachteil gereicht". Das wiederum erklärt, warum ein Seiteneinsteiger wie Donald Trump oder ein für amerikanische Verhältnisse fast am linken Rand stehender Sozialdemokrat wie Bernie Sanders so groß auftrumpfen können. Außerdem stützt es die These, dass die Fed den Leitzins nur ausgesprochen behutsam anheben wird.

Alan Levinson, bei der Fondsgesellschaft T. Rowe Price Chefökonom für die USA, kommt mit historischen Vergleichen, die den empirischen Eindruck bestätigen. Von den beiden vorangegangen Zinserhöhungszyklen, der eine von Februar 1994 bis Jänner 1995, der andere von Juni 2004 bis Juni 2006, unterscheide sich der demnächst beginnende in einem entscheidenden Punkt: Die Inflationsrate liege deutlich niedriger, als es seinerzeit der Fall war.

Die auf fünf Prozent gesunkene Arbeitslosenquote, verbunden mit der Aussicht auf lange hinausgeschobene Lohnerhöhungen, spreche zwar für eine härtere Linie, meint Levinson. Weil die Fed aber zugleich eine höhere Inflationsrate anstrebe, dürfte sie die Zinsen länger auf niedrigem Niveau belassen, als es sonst der Fall wäre, glaubt Levinson.

Hinzu komme weltwirtschaftlicher Gegenwind. Sowohl 1994 als auch 2004 habe die Ausweitung des Welthandels Rückenwind für das US-Wachstum bedeutet. Der Dollar habe damals gegenüber anderen wichtigen Währungen an Wert verloren, was zusätzliche Wachstumsimpulse gab und die Inflation anheizte. "Diesmal schrumpft der Welthandel, und der Dollar gewinnt an Wert", gibt Levinson zu bedenken. "Die Volatilität an den Aktienmärkten, zuletzt am markantesten zu beobachten in China, wirkt zusätzlich wie eine Bremse. Die gestiegene Unsicherheit wird die Fed veranlassen, Geduld an den Tag zu legen, wenn sie über die nächsten Schritte nachdenkt."

Mark Finn, Börsenanalyst bei T. Rowe Price, rechnet auch nicht mit auf breiter Front fallenden Kursen. Vielmehr, sagt er, wäre er nicht überrascht, 2016 einen Aktienmarkt zu erleben, an dem sich nicht viel bewegt, weder nach oben noch nach unten. (Frank Herrmann, Portfolio, 2.12.2015)